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Wagners schönste Stellen (6) : „Siegfried“, 1. Aufzug, 1. Szene, Takte 1278 bis 1309

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Bild: Kat Menschik

Eine Szene im „Siegfried“ ergreift mich mit solcher Wucht, dass ich alles vergesse und es auf dem Sitz kaum aushalte - wenn nämlich Siegfried sein „Wanderlied“ singt.

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          Es gibt Musik, die mir aufs höchste imponiert. Die Werke Richard Wagners stehen da an erster Stelle: Sie gleichen phantastischen Romanen, die zu erfinden man sich nicht im Traum zutrauen würde. Und dann gibt es Musik, die mich im tiefsten berührt: Sie ist wie Lyrik, die mich aus einer anderen Welt anweht. Ich denke an Bach, Mozart, Beethoven, Schubert und verbinde ihre Musik oft mit einer weit zurückreichenden Naturerfahrung: ein Waldweg, ein Gebirgssee, eine Kette von Zugvögeln am Himmel.

          Das ist mit dem Tod Schuberts vorbei. „Mit Schumann beginnt die Zeit der unsicheren Leute. Schumann hatte nichts Rechtes gelernt, Wagner auch nicht, ich auch nicht“, hat Brahms einmal gesagt. Ich bin mir bewusst, dass ich diese seine Provokation sehr frei deute, wenn ich sie so verstehe: Die Alten gründeten in der Naivität des Handwerks; doch weil sie zugleich Genies waren, hatten ihre Schöpfungen etwas Göttliches - nicht als Nachahmung der Schöpfung, sondern als ihr Teil.

          Die Späteren hingegen mussten beständig Geschichte und Gesellschaft im Auge haben. Das hieß, unablässig Tradition und Gegenwart zu reflektieren und sich zugleich von beidem abzugrenzen, um unbedingt „authentisch“ zu sein.

          Solche Authentizität wirkte bei aller Leidenschaftlichkeit - notgedrungen - gemacht. Man wird an Pygmalion erinnert, der sich eine Traumfrau aus Stein schuf: Zwar erhörte Venus sein Flehen und machte den kalten Marmor lebendig; und doch hielt der Bildhauer fortan nur sein eigenes Geschöpf in den Armen. Das war nicht zu vergleichen mit dem ganz Anderen, in das sich die „handwerkliche“ Kunst der Bach & Co. ohne ihr Zutun immer neu verwandelte - ein Wegschenken der eigenen Kunst bei den einen, ein bedürftiges Sich-Wärmen an ihr bei den anderen.

          Das ergreifende Wagenlied des Siegfried

          Es gibt imponierende Naturszenen bei Wagner - im „Holländer“, im „Ring“, im „Parsifal“ und sonst wo: Der Musikdramatiker hat seine jeweiligen Ideen so präzise umgesetzt, dass die Alten vermutlich einen Schrecken bekommen hätten. Doch bei allem Genuss, den mir das „Holländer“-, das „Rheingold“-Vorspiel oder das „Siegfried-Idyll“ bereiten: Ich weiß, dass ich mich im Theater befinde.

          Eine Szene im „Siegfried“ ergreift mich jedoch mit solcher Wucht, dass ich alles vergesse und es auf dem Sitz kaum aushalte - wenn nämlich Siegfried sein „Wanderlied“ singt: „Aus dem Wald fort in die Welt zieh’n: / Nimmer kehr’ ich zurück! / Wie ich froh bin, dass ich frei ward, / nichts mich bindet und zwingt. / . . . / Wie der Fisch froh in der Fluth schwimmt, / wie der Fink frei sich davon schwingt: / flieg’ ich von hier, fluthe davon . . . „

          Mit Siegfried zum Knaben werden

          Während ich Wagners Gestalten sonst nur nachwinke, möchte ich hier mit Siegfried davonziehen. Das ist der Knabe in mir, der zwar keine schlechten Eltern à la Mime gehabt hat, sich gleichwohl hinaussehnt aus den Zwängen des Althergebrachten, der kreativ werden will - schöpferisch. Da tauchen aus dem kollektiven Unbewussten Bilder von Freiheit auf, hinter deren „Natur“ alle Zivilisation verblasst.

          Ich wünschte mir, dass unsere Experten für Regietheater das „Wanderlied“ nicht von einem Heldentenor singen ließen, sondern von einem Knaben. Ich phantasiere mich selbst in diese Rolle: Als Knabe muss ich nichts wissen von den bösen Verstrickungen, die auf mich als ,Siegfried’ warten. Und schon gar nicht muss ich mich in der düsteren „Ring“-Saga auskennen. Auch bin ich zu jung, um das komplizierte Leitmotivgewebe auffassen zu können, von dem sich mein Lied abhebt. Ich singe und bin glücklich.

          Schwan - Lenz - Abendstern

          Richard Wagner selbst wusste genau, wofür ihn die Nachwelt lieben würde: „Ja, ja, das ist diese Stelle . . . „, sagte er, „die Theater haben dann drei Stücke: ,Du bist der Lenz’; ,Du lieber Schwan’; und ,O, du mein holder Abendstern!’“ Aber gibt es nicht noch viel mehr schöne Stellen? Wir haben uns mal umgehört.

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