„Proletenpassion“ in Essen : Ich bin’s, ich sollte in der Geschichte Berücksichtigung finden
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„Es ziehen die Lemuren mit wütendem Geheul“: der „Gespensterzug“ der von der Pariser Kommune nach Versailles vertriebenen Bourgeois im fünften Kapitel der „Proletenpassion“. Bild: Martin Kaufhold
Wäre der Marxismus heute zu mitreißend für sensible Gemüter? Die „Proletenpassion“ von 1976 wird im Essener Schauspiel durch neue Zwischentexte ruiniert.
Für die „Proletenpassion“, deren Uraufführung 1976 die Wiener Festwochen eröffnete, müsse ein neuer Gattungsbegriff erfunden werden, schlug Hilde Spiel in dieser Zeitung vor: Agitpop. Das war durchaus als Lob gemeint: Agitation und populäre Musik werden in dieser zweieinviertelstündigen Folge von Gesangsstücken mit eingestreuten Sprechtexten verschmolzen, mit mitreißender Wirkung. Botschaft und Rhythmus, Gedanke und Affekt sind eins.
In dieser Herstellung von Einheit, im Verschwindenlassen aller Lötstellen, liegt die Kunstfertigkeit der Schöpfer, die man als Kollektiv ansprechen muss: Der im Februar 2018 ein halbes Jahr vor seinem achtzigsten Geburtstag verstorbene Schriftsteller Heinz Rudolf Unger lieferte passgenaue Texte für die Musik der 1969 gegründeten Band „Schmetterlinge“, die mit der „Proletenpassion“ auf Tournee ging und sie auf drei LPs einspielte. Eingängig ist die Einfachheit der Mittel, die man geradezu Brutalität nennen kann, zumal mit fröhlicher Inbrunst von Gewalt die Rede ist: „Der Wind hat sich gedreht, / Die Bauernfahne weht! / Wir hab’n den Sturm gesät / Der euch jetzt niedermäht.“
Die Reimwörter sausen nieder wie Schläge jenes Werkzeugs, das der in einem anderen Lied besungene Mann, der die Bauern in die letzte Schlacht führte, als Attribut der Autorschaft führte, als wäre es ein Schreibwerkzeug: „Thomas Müntzer mit dem Hammer“. So materialisiert sich ein Welt- und Geschichtsbild als Tonbild, dessen elementares Leitmotiv der Einklang von Hammer und Amboss ist. Die Bauern sind in einen Kampf gezogen, der mit der Niederlage bei Frankenhausen nicht zu Ende war, sondern in der Gegenwart weitergeht: Als Konzept stiftet der Marxismus, genauer gesagt der Kommunismus, die Einheit des Werkes.
Was die Form betrifft, so liegt, denn unterhaltsam ist das Ganze zweifellos, der Begriff der Revue nahe. Er spielt allerdings den Ernst der Sache herunter; die satirischen Nummern, die dazu dienen, die Bourgeoisie verächtlich zu machen, bleiben Einlagen. Die Titelanspielung auf die Passionen von Bach kündigt ein Oratorium an und weist nicht in die Irre; freilich handelt es sich um eine Variante der Passion, in der Rezitative und Arien stark zurücktreten und die Choräle alles dominieren. So kurz die meisten Lieder sind: Sie nutzen den Reiz der Strophenform. In dieser Weltgeschichte der Unterdrückten liegt in der Wiederholung die Hoffnung.
Bernd Freytag und Mark Polscher haben die „Proletenpassion“ für das Schauspiel Essen bearbeitet, für einen achtundzwanzigköpfigen Chor aus Ensemblemitgliedern und Laien. Sie lassen die Lieder a cappella singen. Das ist keine schlechte Idee. Historisch gesehen steht die „Proletenpassion“ im Kontext von Bemühungen von Gruppen wie „Zupfgeigenhansel“, revolutionäre Potentiale des deutschen Volksliedguts freizulegen. Die „Schmetterlinge“ zitieren und imitieren überlieferte Arbeiter- und Bauernlieder. Wenn Freytag und Polscher ohne Begleitung singen lassen, behandeln sie die „Proletenpassion“ nun selbst wieder als solches Gemeineigentum und nicht als Klassiker im Sinne der bürgerlichen Kultur. Die Essener Laiensänger singen die Lieder von 1976 nach. Hörbar werden Mut und Selbständigkeit, dialektische Voraussetzungen der kollektiven Aneignung, die das Original gemäß der geschichtsphilosophischen Logik des Marxismus eher postuliert: So schlicht die Melodien sind – man muss sich ein Herz fassen, sie ohne Gitarre zu singen. Gelegentliche Unsicherheiten der Intonation sind daher fast immer zu verschmerzen.