Prokofjew in Budapest : An Moskau scheitern und verzweifeln
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Dekadent: Im Salon wird dem Adel alles zum Jux - Chorszene aus „Krieg und Frieden“ in Budapest. Bild: Valter Berecz
Sergej Prokofjews Monumentaloper „Krieg und Frieden“ nach Leo Tolstoi ist erstmals in Ungarn zu sehen. Das Publikum folgt gebannt und reagiert wie gelähmt.
Spürbar wird Stille vor allem, wenn man sie nicht erwartet; wenn ein gewohntes Geräusch ausbleibt, etwas Tosendes nicht eintritt, kein Freudentaumel sich entlädt, dem Blitz kein Donner folgt. In Budapest wurde jetzt die ungarische Erstaufführung von Sergej Prokofjews „Krieg und Frieden“ nach Leo Tolstois Roman, eine sowjetische Monumentaloper in Überlänge und mit achtundzwanzig teils enorm fordernden Gesangspartien, auf die Bühne gebracht. Anlass zu angemessenen Beifallsbekundungen für die musikalisch wie körperlich durchtrainierten Interpreten hätte es dabei an unzähligen szenischen Einschnitten gegeben, bei der großen Zäsur nach acht von dreizehn Bildern allemal, natürlich auch nach orchestralen Schlachtengemälden und ariosen Lyrismen à la Tschaikowsky. Nichts geschah jedoch.
Dreieinhalb Stunden herrschte lähmende Stille im Parkett und auf den drei voll besetzten Rängen des Opernhauses. Selbst als das pompöse Schluss-Tableau nach dem Sieg des russischen Feldmarschalls Kutusow über die französische Armee Napoleons verhallt war, rührte sich nur zögernd Applaus, lediglich beim kollektiven Verbeugen der Protagonisten ein wenig anschwellend. Zwei Minuten Beifall eines traditionell wohlmeinenden, kunstsinnigen Publikums am Ende eines gigantischen Kraftaktes?
Verstörende Gefühle schien die Premiere an der Budapester Oper hervorzurufen, gerade so, als habe man arglose Musikfreunde mit etwas Obszönem konfrontiert, was zu beklatschen sich für Menschen mit Anstand und gutem Geschmack nahezu von selbst verbietet. Allerdings war die Koproduktion der ungarischen Staatsoper mit dem Grand Théâtre de Genève in der Inszenierung des katalanischen Regisseurs Calixto Bieito auch nicht dazu angetan, Jubelstürme auszulösen. Die Zurückhaltung des Publikums dürfte freilich eher darauf zurückzuführen sein, dass in den knapp anderthalb Jahren zwischen der Genfer Premiere im September 2021 und der jetzigen Budapester Erstaufführung die Welt eine andere geworden ist und der schwebende Zeitgeist, den Bieitos Regie auf die eine oder andere Art einzufangen trachtete, längst von der harten Realität ad absurdum geführt wurde. Zudem hat die veränderte Weltlage den ästhetischen Blick geschärft und manches in entlarvend grelles Licht getaucht, was in leichtlebigeren Zeiten noch als schickes Glasperlenspiel durchgegangen wäre.
Prokofjews Spätwerk hat eine komplizierte, durch die politischen Verhältnisse der Sowjetunion und ihre rigide Kunstdoktrin bedingte Entstehungsgeschichte. Umarbeitungen nach der vorläufigen Fertigstellung des Werkes im Kriegsjahr 1943 haben den Komponisten bis zu dessen Tod beschäftigt, ohne dass es zu einer für ihn selbst oder die Kulturwächter befriedigenden Endfassung gekommen wäre. Im Grunde ist es bis heute ein Ungetüm mit Baustellencharakter geblieben, das – je nach archivalischen Ambitionen – zwischen drei und acht Stunden dauern kann und bei all den selbstauferlegten und staatlich oktroyierten patriotischen Zusätzen, den Streichungen von zwischenmenschlichen Episoden, dramaturgisch motivierten Veränderungen und notwendigen Konzentrationen der wesentlichen Aspekte aus der literarischen Vorlage keinen musiktheatralisch einheitlichen Duktus gefunden hat.