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Alban Bergs „Lulu“ in Leipzig : Letzter Kunde: Jack the Ripper

  • -Aktualisiert am

Bild: 360-Berlin

Stummfilm statt Bühnenbild: In Leipzig bringt die Inszenierung von Alban Bergs Oper „Lulu“ einige Längen mit sich. Orchester und Sänger überzeugen jedoch, besonders Rebecca Nelsen als Lulu.

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          Der letzte Mord wird hinter der Bühne verübt. Das Opfer ist Lulu, die Protagonistin der gleichnamigen Oper von Alban Berg . Mittlerweile ist sie eine Prostituierte, ihren Mörder, Jack the Ripper, bezahlt sie sogar. Ein letztes Missverständnis. Lotte de Beer, die in Leipzig zum 325-jährigen Bestehen der Oper Regie führt, muss die Tat nicht zeigen, die Musik ist grausam genug. Ein klangvoller Schockmoment, aufwühlend und unmittelbar. Obwohl Berg die Katastrophe dramaturgisch sorgsam vorbereitet, fällt dieser Moment überraschend in die Musik: alle zwölf Töne auf einmal. Ein markerschütternder Akkord knallt vom Gewandhausorchester aus dem Orchestergraben. Bald darauf wird der Vorhang fallen und das Publikum einen Abend bejubeln, der nicht zuletzt ein Plädoyer für Alban Bergs geistreiche Musik ist.

          Berg richtet in seiner Oper den Scheinwerfer fast ausschließlich auf die Protagonistin Lulu. Sie ist eine Kindfrau, kein Mann kann ihr widerstehen. Und noch mehr: Einer nach dem anderen sterben ihre Verehrer, weil sie es nicht ertragen können, Lulu nicht für sich allein zu haben. Die Protagonistin ist davon merklich unberührt. Ihre Reaktion, nachdem einer ihrer Liebhaber stirbt: „Bringen Sie doch bitte das Atelier in Ordnung.“ Eine operettenhaft leichte Komik durchweht diesen ersten Akt des gesellschaftlichen Aufstiegs, Lotte de Beer staffiert die Tode nicht unnötig aus.

          Lulus Aufstieg dauert genau eineinhalb Akte. Am Orchesterzwischenspiel in der Mitte des zweiten Akts kulminiert die Oper. An dieser Stelle fügte Berg die beiden Tragödien „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ von Frank Wedekind zusammen. Bergs Musik ist hier bemerkenswert konstruiert, gliedert sich wie ein Palindrom spiegelsymmetrisch um seine Mittelachse. Von dort an geht es für Lulu nur noch bergab: Sie erschießt ihren Mann ohne ein klares Motiv. Es folgt eine Zeit im Gefängnis, schließlich verbringt sie die letzten Tage ihres Lebens in einer Londoner Dachkammer – ebendort, wo ihr letzter Kunde für ihr Ableben sorgt. Der Kniff: Lulus Kunden im dritten Akt werden von den Liebhabern aus dem ersten gespielt, so stimmt ausgerechnet Dr. Schön, das einstige Symbol für den gesellschaftlichen Aufstieg, mit Jack the Ripper überein. Auf musikalischer Ebene arbeitet Berg mit Leitmotiven, doch die Konstruktion der Musik tritt stets zurück hinter die atmosphärische Wirkung.

          Ihr Klangfarbenreichtum ist beim Leipziger Gewandhausorchester in den besten Händen. Unter der Leitung des Intendanten und Generalmusikdirektors Ulf Schirmer spielt das Orchester eher lieblich als schroff. Berg wird als Romantiker begriffen. Im Kontrast dazu erschüttern die Schläge zum Abschluss des zweiten Aktes den Saal wie Kanonenschüsse. Besonders im dritten Akt, den Berg nicht mehr vollendete, erzeugen Orchester und Sänger einen Sog in den musikalischen wie dramaturgischen Abgrund. Schirmer verzichtet im Gegensatz zu anderen Häusern auf kreative Lösungen für das Torso-Problem und greift auf die gängige Fertigstellung des österreichischen Komponisten Friedrich Cerha zurück.

          Dramaturgische Gleichförmigkeit

          Aus dem durchweg überzeugenden Sängerensemble stechen vor allem zwei Darsteller hervor. Die Sopranistin Rebecca Nelsen, in Texas geboren, gibt als Lulu in sängerischer wie spielerischer Hinsicht ein fulminantes Rollendebüt. Ihre Bühnenpräsenz ist beeindruckend, die besondere Stimmfarbe ihres Soprans mit minimal durchschimmerndem amerikanischen Einschlag in der Aussprache verleiht der Rolle einen zusätzlichen Charme. Neben ihr verdient sich Simon Neal als Dr. Schön/Jack the Ripper mit seinem kraftvoll-nachdrücklichen Bariton besonderen Beifall.

          Ausgangspunkt für Lotte de Beers Inszenierung ist der Stummfilm, den Berg für den zweiten Akt vorsah. Dort treibt er die Handlung voran. Die Videoprojektionen von Momme Hinrichs und Torge Møller (fettFilm) treten jedoch über die gesamte Strecke an Stelle das Bühnenbildes, das nur aus wenigen Stellwänden besteht. Auf sie werden neben historischen Aufnahmen in Anlehnung an die Stummfilmzeit auch Zitate aus der Oper projiziert. Während das Zusammenspiel von Video und Musik an der vorgesehenen Stelle gelingt, das Gewandhausorchester spielt hier groß auf, trägt die Idee, auf Video statt auf Kulisse zu setzen, nur mit Mühe über die drei Akte und führt zu einer gewissen dramaturgischen Gleichförmigkeit. Am Ende kommt es der Musik zugute, dass die Regie im letzten Akt auf ein Minimales reduziert ist – die Leinwand flackert hier größtenteils schwarz.

          Sänger und Orchester überzeugen

          Lotte de Beers Idee, die Handlung zu vereinfachen und zugänglich zu machen, tut dem Stück gut, schließlich ist Bergs „Lulu“ reich an Personen und ebenso reich an Text, der sich an manchen Stellen gegen eine geradlinige Erzählung sträubt. Die Ortseinblendungen und projizierten Zitate klären allerdings kaum auf. Um die emotionale Seite der Protagonistin zu zeigen, wertet die Regisseurin den allegorischen Prolog im Zirkusmilieu auf, der mit seiner Zurschaustellung der Frau als Bestie zu Zeiten der MeToo-Debatte ohnehin unangebracht wirkt, und nutzt ihn für einen Blick in die Vergangenheit. Sie erzählt Lulus Vorgeschichte, gründet den Wahnsinn der Protagonistin auf eine Vergewaltigung im Kindesalter, die auch recht explizit auf der Leinwand gezeigt wird.

          Eine Deutung, die auf der Hand liegt, aber auch weniger aufdringlich hätte ausgesprochen werden können. Am Ende wird die Klammer geschlossen und eine junge Lulu betritt die Bühne. Das ist bildstark, schafft aber weniger Zugang zum Gefühlsleben der Figur, als es sich die Regisseurin womöglich erhoffte. Rebecca Nelsen bleibt bewundernswert kühl und kalkuliert in ihrem Spiel, Lulu dadurch eine höchst rätselhafte Frau. Ihr Verhalten muss sich nicht logisch aus ihrem Umfeld ableiten lassen, ihr Wahnsinn entzieht sich einer einfachen Erklärung. Am Ende des langen, aber beglückenden Abends sind es die Sänger und das Orchester, die besonders im Gedächtnis bleiben. Großer Beifall.

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