Oper : Gespreiztheit will gelernt sein
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Der Kostümbildner Stephan Dietrich hat das Gefolge der blaublütigen Protagonisten unter Cockerspanielperücken in Brokatröcke gewandet, als wären hochnäsige britische Gentlemen bei der Uraufführung von 1720, der immerhin König Georg I. die Ehre gab, auf die Bühne gestiegen. Das ist als Augenzwinkern gegenüber der Händel-Zeit gemeint. Bei den phantasievollen wie sperrigen Heldenkostümen zeigt sich der Grat zwischen historischer Korrektheit und phantasievoller Einfühlung noch besser: Männer trugen damals auf der Bühne ein Pannier, das als ein kurzer Reifrock, gerne mit Brustpanzer darüber, an antike Rüstungen erinnern sollte. Die schönen Beine der Männer (oder der Frauen in Männerkleidern) waren recht sichtbar, wohingegen die riesigen Roben der Damen sogar die Knöchel züchtig verhüllen mussten. „Wir haben“, erzählt Dietrich, „uns streng an den Stil der Zeit gehalten, jedes Pannier ist beispielsweise am Hinterteil mit einem dicken Kissen gefüllt. Teilweise kommen die Sänger dann mit ihren hohen Federhelmen quer und längs nicht mehr durch die Tür.“ Doch so genau die Einfühlung verlief – jedes Kostüm ist neu nachempfunden, wobei Dietrich vor allem mit metallenen Applikationen, kleinen Spiegeln und drastischen Farbkontrasten arbeitet: „Sonst würden die Gestalten im Kerzenlicht verschwinden.“
Perfekte Illusion
Perfekt wird die Illusion der Gegenwelt dann in den Ballettszenen, die die gelernte Tänzerin Sigrid THooft mit ihrer eigenen Genter Gruppe „Corpo Barocco“ penibel einstudiert. Bestandteile wie eine große Passacaglia mit verwickelten Sprüngen und Schrittfolgen, lange vor der Erfindung des Spitzentanzes, werden in modernen Inszenierungen zumeist weggelassen. Woher sollten wir die Gesellschaftstänze auf Händels Bühne auch kennen? Sigrid THooft glaubt jedoch, noch den einzelnen Schritten auf der Holzbühne am Haymarket nachgehen zu können. Sie hat die Tanzumschrift und detaillierte Beschreibung eines Ballett-Traktates aus dem London um 1725 – Anthony LAbbées „New Collection for Theatre“ – dechiffriert und lässt ihre Tänzer zu einem nachempfundenen Hofballett jener Tage die Bühne stürmen.
In solchen Momenten scheint das barocke Theater tatsächlich seiner Bestimmung am nächsten: die perfekte Illusion einer phantastischen Welt zu schaffen. Die Zeitmaschine im Kerzenlicht ist angeworfen. Und die Solisten, die gerade Pause haben, bestaunen im Parkett mit einer Cola in der Hand und aufgeknöpften Bustiers ihre singenden Kollegen, die wie aus einer anderen Zeit in Karlsruhe gelandet zu sein scheinen. „Die perfekte Nachahmung gibt es trotzdem nicht“, sagt Sigrid THooft, „das würde jede Phantasie und damit die Kunst abtöten.“ Man wird es also nicht zu weit treiben mit dem Historismus am Badischen Staatstheater. Die Bühnenkerzen sind mit sauberem Leinöl gefüllt, weil die originalen Talglichter damals fürchterlich geraucht und gestunken haben. Und am Freitag in Karlsruhe bleibt, anders als bei Händels Londoner Premiere des „Radamisto“, das Licht im Zuschauerraum aus. Bei Beleuchtung im Parkett würden wir schließlich nicht König Georg I. und allerhand versnobten Londoner Gents ins gepuderte Antlitz blicken, sondern merkwürdigen Kreaturen, an denen jede Zeitreise notwendig scheitern müsste: uns selbst.