Oper Frankfurt : Wer rettet diese Seele vor dem Erfrieren?
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Frauen in der Mythenküche: Noch weiß Medea (Anne Sofie von Otter) nicht, dass Jason sie mit Kreusa (Christiane Karg) betrügt. Die Erkenntnis wird blutig Bild: Barbara Aumüller
Sie liebt bedingungslos und geht dafür über Leichen: In Marc-Antoine Charpentiers Oper verkörpert die Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter die Medea - und wird zur Heldin der Frankfurter Opernsaison.
Sonderlich sympathisch ist die Dame am Ende nicht. Aber wahrscheinlich ist genau das ihr Erfolgsgeheimnis - seit mehr als zwei Jahrtausenden. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Figuren der Antike führt die Kindermörderin Medea ein fast lückenloses Nachleben, bis in unsere Gegenwart hinein. Was einst Euripides und Seneca in Dramen meißelten, regte nicht zuletzt zahlreiche Opernkomponisten aus allen Epochen an. Durch Maria Callas avancierte etwa die „Medea“ des Beethoven-Zeitgenossen Luigi Cherubini zu einer Paraderolle für darstellerisch wie stimmlich gleichermaßen begnadete Sopranistinnen.
Im vergangenen Jahr wurde die Münchener Ausgrabung von Johann Simon Mayrs „Medea in Corinto“ (1813) in der Regie von Hans Neuenfels zur Entdeckung der Saison. Und jüngst erst hat Aribert Reimann Grillparzers dramatische Neugestaltung des Mythos als Vorlage für ein eindrucksvolles Bühnenwerk gewählt, das umgehend zur „Uraufführung des Jahres“ erkoren wurde. Medea, die liebende, verratene Frau, die sich das Liebste buchstäblich vom Herzen reißt, um ihren Gefühlen treu zu bleiben, hat immer Konjunktur, denn sie ist eine wahrhaftige, bis zum letzten Blutstropfen authentische Gestalt.
Erstmals 1693 am Hof des französischen Sonnenkönigs aufgeführt
Die Frankfurter Oper hat mit der neuen „Medea“ von Reimann ihre aktuelle Spielzeit eröffnet. Jetzt lieferte sie als gelungene dramaturgische Ergänzung die gut dreihundert Jahre ältere Version von Marc-Antoine Charpentier nach, die erstmals 1693 am Hof des französischen Sonnenkönigs gezeigt wurde. Bei der Erstaufführung dieser „Médée“ im Bockenheimer Depot war der Rahmen ungleich weniger prunkvoll; dafür hatte man sich mit Andrea Marcon eines ausgewiesenen Barockexperten versichert, der die Mitglieder des Frankfurter Opernorchesters zu beeindruckend stilsicherem, spannungsgeladenem Spiel auf historischen Instrumenten anhielt. Und obendrein war für die Titelpartie eine überragende Sängerin engagiert: Die schwedische Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter gab an diesem Abend ihr Rollendebüt.
Man muss dies betonen, weil man es andernfalls kaum glauben mochte - so vokal ausgefeilt und auch darstellerisch durchdacht wirkte dieser Einstand. Dabei bedeutet gerade die Medea eine besondere Herausforderung: Gehört sie doch zu jenen Bühnengestalten, die im Lauf des Geschehens eine schier atemraubende Wandlung durchlaufen und ihren Charakter ins glatte Gegenteil verkehren.
Faszinierend breites Spektrum an Stimmfarben
Aus der selbstbewussten Frau und Mutter wird unter dem Druck der Verhältnisse eine mehrfache Mörderin. Dies darzustellen - dazu noch im streng stilisierten Rahmen einer barocken Oper - grenzt ans Unmögliche. Doch Anne Sofie von Otter tat das einzig Richtige: Sie verzichtet weitgehend auf jede szenische Exaltation, bewahrt der Figur vielmehr bis zuletzt eine gewisse klassische Noblesse und Unnahbarkeit. Umso erregender die Momente, in denen sie wirklich zur Furie wird und die auch musikalisch die Höhepunkte von Charpentiers Oper sind: die Beschwörung der Höllenmächte „Rache“ und „Eifersucht“; die archaisch ritualisierte Präparation des Giftkleides, das ihre Nebenbuhlerin Kreusa töten wird; und ihre Abrechnung mit dem Korintherkönig Kreon, den sie an ihrer statt in die ewige Verbannung geistiger Umnachtung schickt.
Die Sängerin kann sich eine solche Konzentration auf die Schlüsselmomente erlauben, weil sie alle anderen Emotionen zwischen innigster Mutterliebe, Begehren und Enttäuschung in ihrer Stimme zu spiegeln vermag. Besonders eindringlich gelingt das in dem großen Monolog „Quel prix de mon amour“, der einen erschütternden Blick in die zerrissene Seele dieser Frau eröffnet. Aber auch sonst begegnet Anne Sofie von Otter Charpentiers vielgestaltiger Musik mit einem faszinierend breiten Spektrum an Stimmfarben und Nuancen, in dem sich ihre noch immer hörbare Schulung am spezifischen Gesangsstil der Alten Musik glückhaft mit den gestalterischen Erfahrungen eines reichen Sängerlebens verbindet, in dem es längst keine stilistischen oder historischen Scheuklappen mehr gibt - bis hin zur Zusammenarbeit mit dem Popsänger Elvis Costello und der „Abba“-Hommage „I Let The Musik Speak“. Anne Sofie von Otter ist noch immer eine Spezialistin, die aber ihr Spezialistentum nicht mehr - wie in den Expertenzirkeln von Alter wie Neuer Musik leider oft üblich - auszustellen braucht, da in allem, was sie tut, eine unverfälschte Persönlichkeit spürbar wird.
Jeder denkt zuerst an die eigene Lustbefriedigung
Deshalb muss sie sich auch gegenüber den übrigen Frankfurter Sängern nicht in den Vordergrund spielen. Neben ihr gewinnen vielmehr die Kreusa von Christiane Karg und der tragikomische Kreon von Simon Bailey beträchtliche dramatische Statur. Etwas blasser bleiben der Oronte von Sebastian Geyer und der zu wenig doppelgesichtige Jason von Julian Prégardien, der seine exponierte Höhe stellenweise nicht unter Kontrolle hat. Im Ganzen aber prägt und adelt ein bemerkenswerter Ensemblegeist die Aufführung.
Dies kommt auch der Inszenierung von David Hermann zugute, die das antike Geschehen in eine von Christof Hetzer entworfene Designerwohnung mit Gefriertruhen-Atmosphäre samt Küchenzeile und Work-out-Sprossenwand verlegt. In diesem Ambiente, in dem jeder zuerst an die eigene Lustbefriedigung denkt, kann eine Liebende nur verkümmern. Dass Medea ihre Kinder ermordet, um ihren untreuen Jason mit dem größtmöglichen Schmerz zu bestrafen, erscheint hier zwar nicht weniger fragwürdig, offenbart sich aber als der letzte Hilfeschrei einer erfrierenden Seele. Exakt hierin liegt die Aktualität des Stoffs.