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Fontane-Novelle wird zur Oper : Wenn das Meer im Menschen singt

Fast wie Max Klingers Grafik „Am Meer“: Maria Bengtsson als Oceane von Parceval Bild: Marcus Lieberenz

Man spürt den selbstzerstörerischen Sog der See im Singen: An der Deutschen Oper Berlin kommt „Oceane“ von Detlev Glanert nach Theodor Fontane zur Uraufführung.

          3 Min.

          Ein großartiger Anfang: zunächst nur das textlose Singen einer Frau, die Stimme des Meeres, ein Naturlaut, vorsprachlich, übersprachlich, etwas Unsagbares, etwas Unsägliches, lockend, sehrend, sich steigernd zum orchesterumtosten Singen des Chores, noch immer ohne Text, den Kontinent der Sprache verachtend, ein Sirenenruf, der Erlösung im Untergang verheißt. Und so wird die Oper „Oceane“ von Detlev Glanert auch enden: mit einem Versinken, dem Einswerden der Stimme von Maria Bengtsson mit der Stimme des Meeres, die seit jeher ihre eigene Stimme war und wie ein dem Menschen Fremdes aus ihr heraus sang. Das hat Kraft, das zieht mit, man spürt diesen selbstzerstörerischen Sog des Meeres im Menschen, und dieses Faszinosum ist stark genug, um über die Vorhersehbarkeit der Geschichte hinwegzutragen.

          Jan Brachmann
          Redakteur im Feuilleton.

          „Oceane von Parceval“, die Skizze zu einer Novelle von Theodor Fontane, kurz nach 1880 aufgeschrieben, nie ganz ausgeführt, liegt dieser Oper zugrunde. Hans-Ulrich Treichel hat mit großer Gewandtheit die Reflexionsprosa Fontanes in die wörtliche Rede eines Opernlibrettos übertragen, dabei aber auch zwangsweise vieles verdichten und vereinfachen müssen, damit ein „Sommerstück für Musik in zwei Akten“ daraus werden konnte, das jetzt, als Auftragswerk der Deutschen Oper Berlin zum Fontane-Jahr 2019, seine Uraufführung erlebt hat.

          Bei Fontane spielt alles an der Ostsee, in einem Hotel, vermutlich an der Pommerschen Bucht, zwischen Heringsdorf und Swinemünde, der preußischen Riviera, die Fontane aus seiner Kindheit kannte und die nach 1871 zur Sommerhauptstadt des Kaiserreiches geworden war. Das Hotel von Madame Louise und Zahlkellner Georg ist ein finanzieller Sanierungsfall. Der junge Baron Martin von Dircksen und sein Freund Albert Felgentreu sind Sommergäste genauso wie die reiche, schöne Oceane von Parceval und deren Kammerfrau Kristina. Aus Kristina und Albert wird schnell und unkompliziert ein Paar, denn die lockeren Umgangsformen des Seebades waren der erotischen Annäherung zwischen den Geschlechtern förderlich. Auch Martin ist hingerissen von Oceane, doch sie ist seltsam: Fontane beschreibt sie als moderne Melusine, als Wasserfrau, die der Menschenwelt zugehören will und es nicht kann. Sie ist ein tragischer Charakter, ekstatisch und kalt zu gleich; sie überschreitet Grenzen, um überhaupt etwas zu empfinden – eine Frau voller Sehnsucht, aber ohne Einfühlungsvermögen, weniger autistisch als schwer depressiv.

          Etwas wie leiseste seelische Resonanz

          Bei Treichel und Glanert allerdings wird sie etwas zu schnell zum Opfer eines fremdenfeindlichen Mobs, den der von Jeremy Bines einstudierte, höchst bewegliche Chor der Deutschen Oper bewundernswert singt. Auch der Pfarrer Baltzer, mit kernigem Bass und scharfer Diktion gesungen von Albert Pesendorfer, setzt der seltsamen Frau zu: „Jemand, der so fern von den Menschen ist, der mehr ein Tier ist und fern von Gott, der sollte nicht gebären.“ Dieser schwarzbeseelte Pfarrer, auch musikalisch sofort als Lichtschlucker eingeführt, hat mit der lebensweisen Milde, der wohltemperierten Weltfrömmigkeit Fontanescher Pastorenfiguren wenig zu tun.

          Doch Glanert unterschlägt das Selbstzerstörerische in Oceane nicht. Kein Mob rührt sie an. Maria Bengtsson lässt ihren kräftigen, dabei leichten Sopran in heller Schönheit, aber völlig apathisch über dem Zetern der Masse leuchten. Glanert hat ihrer Partie etwas Exterritoriales gegeben, das mit seinem Silberschimmer außerhalb der recht trivialen Gesellschaftsmusik aller Übrigen steht. Nur in einem kurzen Strandgespräch mit Martin, den der Tenor Nikolai Schukoff mit schwärmerischer Leichtigkeit und einfühlsamer Eleganz singt, gibt es so etwas wie eine musikalische Begegnung zwischen Oceane und einem anderen Menschen, etwas wie leiseste seelische Resonanz.

          Suggestivkraft aus ästhetischem Historismus

          Dieses kurze Duett ist, neben Anfang und Schluss, der stärkste Moment in dem Stück, das sonst ein wenig daran krankt, dass sich der Komponist seiner Mittel zu sicher zu sein scheint. Louise und Georg – mit Doris Soffel und Stephen Bronk glänzend besetzt – ähneln sehr der Leitmetzerin und dem Faninal im „Rosenkavalier“ von Richard Strauss. Kristina, mit dem quicken Charme der Soubrette Nicole Haslett ganz erfrischend getroffen, ist eine in den pommerschen Sand versetzte Fiakermilli, die vor dem leichtfüßigen Operettenparlando des Baritons Christoph Pohl als Dr. Albert Felgentreu vorteilhaft glänzen kann. Doch im virtuosen Umgang mit Stereotypen und Konfektionen der Oper geht dem Komponisten das Gefühl für dramatische Proportionen, für psychologische Zeit verloren. Die Figuren entwickeln sich kaum, sie werden als fertige – vokal sehr prägnant geformte – Physiognomien hingestellt, ohne dass ihre Umschwünge musikalisch immer hinreichend motiviert scheinen. Das hätte in der Oper mehr Zeit, in der Partitur mehr Ausarbeitung gebraucht.

          Die Inszenierung von Robert Carsen mit der Bühne von Luis F. Carvalho, dem Meeresvideo von Robert Pflanz und den Kostümen von Dorothea Katzer ist optisch ein Ereignis. Wir sehen eine entfärbte Seebadwelt um 1880, eine Belle Époque in Schwarz-Weiß-Grau. Das Bild der einsamen Oceane vor der Brandung gleicht fast der Radierung „Am Meer“ aus dem Zyklus „Intermezzi Opus IV“ von Max Klinger (1881). Auch die Verbindung schwarzer Vorhänge mit der See, das Ineinander von Bühne und Natur, Intérieur und Freiluft, nimmt Motive der Grafiken „Accorde“ und „Evocation“ aus Klingers „Brahms-Phantasie“ wieder auf. Gerade aus diesem ästhetischen Historismus bezieht die Produktion ihre eigene psychologische Suggestivkraft, ihre fesselnde Gegenwart.

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