Choral-Datenbank : Nonnen singen fürs Internet
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Die Benediktinerinnen von Jouques beim Gebet und Gesang. Bild: Abbaye de Notre-Dame de Fidélité
Achttausend Stunden Musik: In Frankreich nehmen Benediktinerinnen das gesamte liturgische Repertoire des Gregorianischen Chorals für eine Datenbank auf.
Es ist ein schlichtes Kreuz aus Holz an der Ausfahrt der D96, die nach Aix-en-Provence führt, das den Weg in eine andere Welt weist. Über engverzweigte holprige Schleichwege umgeben von Pinien biegt der Fahrer mehrmals ab. Auf einem kleinen Hügel entdeckt man sie endlich: die Benediktinerinnen-Abtei Notre Dame de Fidélité von Jouques. Kein mystisch mittelalterlicher Touristen-Hotspot mit romanischer Kirche und Mosaiken wie der, den die Brüder von Ganagobie etwa eine halbe Stunde von hier entfernt zu bieten haben. Eher ein Anwesen in provenzalischer Architektur mit neoromanischen Anklängen aus ockergelbem Kalkstein und Dachziegeln in changierenden Terrakottatönen.
Das Hauptportal ist geschlossen. Ein schmaler Weg führt zu einem kleinen Nebeneingang. John Anderson, Gründer des CD-Labels Odradek Records, grüßt herzlich, muss gleich wieder weiter. Unaufdringlich weist eine Ordensschwester den Weg in das Büro der Abtei, reicht still lächelnd Kaffee und Gebäck, bevor sie lautlos wieder verschwindet. Zu Gast also in dieser kargen Umgebung, mit einem grimmig blickenden provenzalischen Heiligen auf einem kitschigen Tischgemälde und Papst Franziskus sowie dem Erzbischof von Aix-en-Provence Christophe Dufour, die auf Fotos von der Wand hinunterlächeln.
Der Blick aus dem Fenster allerdings ist herrlich. Endlose Lavendelfelder und Olivenhaine. Die reiche Erde hier scheint viel herzugeben: Oliven, Mandeln, Aprikosen, Rosmarin, Kichererbsen. Zwanzig Hektar soll die Klosteranalage umfassen – inklusive Weinberg. Dort werden sich die Schwestern nun aufhalten und arbeiten. Denn es ist 15 Uhr. Non (lat. Nona), die neunte Stunde hat geschlagen, der Überlieferung nach die Todesstunde Jesu. Das Stundengebet um 14.45 Uhr ist bereits vollbracht, und nach dem „ora“ (bete) kommt wie immer das „labora“ (arbeite). So wünschte es sich der Gründervater des Ordens, der heilige Benedikt von Nursia, im sechsten Jahrhundert. „Labora“ heißt es nun auch für die Bauarbeiter nebenan, die hämmernd und sägend das Kapellendach ausbessern. Bald werden sie fertig sein; neben dem schmucklosen Altar steht bereits der Baustellen-Staubsauger. Dahinter, auf einer zwanzig Meter hohen Treppe, sieht man John wieder. Mit seinem Toningenieur Fabio Cardone sucht er die Holzbalken ab, an denen er acht flache Mikrofone positionieren will. Nur die Orgel und das goldene Adlerpult geben dem Ort ein bisschen von seiner heilig kontemplativen Aura zurück.
Es ist Mitte März 2019, und John drängt es zur Eile. So schnell wie möglich soll die digitale Infrastruktur geschaffen werden für sein jüngstes Projekt Neumz: die Aufzeichnung des gesamten Gregorianischen Chorals in Ton und Schrift. Eine kühne Idee, mit der sich der gebürtige Amerikaner seit seiner Musikstudienzeit in Oxford trägt. Oft habe er damals seine Tante, die als Schwester Maria Dolores im Kloster Jouques lebte, besucht und eine Atmosphäre erlebt, die alle Theorie an der Universität nicht vermitteln konnte: die geheimnisvoll archaische, leise und entrückte Welt des Gregorianischen Chorals. Heute möchte er den Choral aus seiner sakralen Intimität holen und unter alle Menschen bringen, damit auch sie die „Basis der westlichen Musiktradition“ kennenlernen.
Maria Dolores konnte er bereits dafür gewinnen, doch etliche Ordensschwestern hadern noch mit dem Gedanken, ihr heiligstes und intimstes Gut, ihre Zwiesprache mit Gott, Tag für Tag zu Markte zu tragen, auf einer App, die jedermann im Web und für iOS und Android zur Verfügung stehen soll. Die Welt 2.0 scheint nicht in ein Leben zu passen, das vielfach noch nach einem Regelwerk läuft, das um 540 nach Christus vom heiligen Benedikt verfasst wurde. Ein Leben in Klausur, in Keuschheit, Armut, Arbeit und Gehorsam und dem Credo „Ut in omnibus glorificetur Deus – Auf, dass Gott in allem verherrlicht werde“. Eine Überzeugung, von der sie nicht abließen, auch nicht, als französische Revolutionsgardisten ihre Klöster verwüsteten und die laizistische Staatsgewalt sie vertrieb. Heute gibt es in Frankreich mehr als zwanzig Benediktinerklöster und Abteien. Meist autarke Gemeinschaften, die selbst ihre Bedingungen stellen. Das erfuhr auch ein Manager eines mächtigen Musikkonzerns, der für eine CD-Produktion mit den Schwestern von Le Barroux eigens aus London anreiste. Der Vertrag wurde durch ein Holzgitter gereicht.