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Russland unter der Diktatur : Dorfrichter Stalin

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Andrey Urazov, Gina Henkel und Tobias Beyer in „Die Schritte der Nemesis“ in Braunschweig Bild: Joseph Ruben

Schauprozesse und gezielte Desinformation: Nikolai Evreinovs Stück „Die Schritte der Nemesis“ über Russland unter Stalin ist beklemmend aktuell. Jetzt wurde es am Staatstheater Braunschweig uraufgeführt.

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          Eine Schauspielerin, die nicht spielt. Die Ukrainerin Antonina Romanowa wird auf die Leinwand im Hintergrund der Bühne projiziert. Als Freiwillige, sagt sie, hat sie sich für den Kriegsdienst in der Heimat gemeldet, einen Eid geschworen. In einer Garage oder Scheune irgendwo in der Ukraine sitzt sie, die eigentlich an diesem Abend im Staatstheater Braunschweig spielen sollte. Es ist der Abend der Uraufführung von Nikolai Evreinovs Stück „Schritte der Nemesis“ – entstanden um 1941, erstmals aufgeführt hundert Tage nach Kriegsbeginn. Um die Moskauer Schauprozesse zwischen 1936 und 1938 geht es in dem Stück, das damit Theater über ein Theater ist, das behauptete, keines zu sein.

          Dass die Schauspielerin nun gerade nicht spielt, sondern in wiederkehrenden Einblendungen davon spricht, wieso sie heute nicht auf der Bühne stehen kann, ist dabei auch traurige Ironie. Denn Evreinovs theatertheoretische Kernthese war: Wir alle sind Schauspieler, genauso wie wir Zuschauer sind; das ganze Leben ist Theater und Natürlichkeit auch nur eine Pose.

          Doppeltes Spiel um Leben und Tod

          Naheliegend also, dass sich Evreinov intensiv mit der Inszenierung der stalinistischen Schauprozesse beschäftigte. In den öffentlich geführten Prozessen wurden große Teile der ehemaligen und aktiven Führungsriege der Bolschewiki angeblicher Verbrechen angeklagt – und meist zum Tode verurteilt. In seinem Stück lässt Evreinov Funktionäre der Partei wie Bucharin, den Chefredakteur der Prawda, oder Jagoda, Leiter des NKWD und mitverantwortlich für den Aufbau der Gulags, und auch Stalin selbst auftreten.

          In der Inszenierung des „International Laboratory Ensemble“ unter Regisseurin Yuri Birte Anderson findet der Großteil des eigentlichen Geschehens hinter der Leinwand statt, auf der Schwarz-Weiß-Aufnahmen eben dieses Geschehens gezeigt werden. Hinter den Kulissen, soll das heißen, finden die eigentlichen Prozesse statt, bei denen die Protagonisten einander belauern, sich Allianzen vorspielen und sich gegenseitig verraten. Vor dem Hintergrund des Großen Terrors, bei dem es hieß, der Selbstmord sei „in den Kellern der Lubjanka ein unerreichbarer Luxus“, spielt hier jeder mindestens ein doppeltes Spiel, und am Ende landen auch die Richter auf der Anklagebank.

          Der Gerichtssaal als Arena einer schrecklichen Sportart: Szene aus „Die Schritte der Nemesis“ am Staatstheater Braunschweig.
          Der Gerichtssaal als Arena einer schrecklichen Sportart: Szene aus „Die Schritte der Nemesis“ am Staatstheater Braunschweig. : Bild: Joseph Ruben

          Die Inszenierung findet für Verzweiflung, Angst und die fürs Überleben notwendige Selbstverleugnung passende Ausdrücke jenseits des auf Deutsch, Englisch, Russisch und Ukrainisch vorgetragenen Textes. Vor der Leinwand erinnert die von niedrigen Holzwänden umgebene Bühne sowohl an einen Gerichtssaal als auch an eine Sportarena. Hier verdeutlichen performative Einlagen des mit weißen Hemden und grauen Hosenträgern bekleideten Ensembles das Ungesagte: Pantomime als letzte verzweifelte Protestform. So sieht man in einer Szene zu atonaler Musik und Jazzklängen von Klavier und Schlagzeug zwei Schauspieler, die einem dritten etwas zuzuflüstern scheinen. Dieser lauscht zunächst gierig, besinnt sich dann schnell und will zuletzt lieber gar nichts gehört haben. Doch da hängen die anderen schon an seinem Ohr, lassen sich nicht mehr abschütteln und kleben an ihm wie angewachsen. Fast skulptural wirkt dieses Menschenknäuel, das sich träge über die Bühne schleppt: eine Mahnung, dass es zum Schuldspruch keine Tat braucht, sondern bloß die Existenz.

          Kontrastiert werden diese wortlosen Momente durch zwei Kommentatoren auf Schiedsrichterstühlen rechts und links der Bühne. Von der einen Seite werden Radiodurchsagen über den Prozess durchgegeben – die Propaganda pervertiert hier die Funktionen des griechischen Chors: Das Geschehen wird nicht erklärend eingeordnet, sondern zum Baustein des Lügenkon­strukts umgedeutet.

          Endlosschleife der Fiktion

          Von der anderen Seite kommt Evreinov, der Autor, selbst zu Wort, erklärt seine Theorie vom Leben als Theater oder ruft dem Angeklagten Bucharin jene Worte zu, die er ihm im Stück in den Mund gelegt hat, während der Staatsanwalt ihn auffordert, jene Geständnisse auszusprechen, die er im historischen Prozess tatsächlich gesagt hat. Die Geständnisse im Prozess waren Fiktion der Wahrheit, der Text im Stück ist die Fiktion des Prozesses, und die Anweisungen auf der Bühne sind Fiktion des Textes. Irgendwo war da mal eine Wahrheit, vor langer Zeit, verloren in der Endlosschleife der Fiktionalisierungen.

          So ist die „Nemesis“, deren Übersetzung gerade hervorragend editiert im Diaphanes-Verlag erschienen ist, ein beklemmendes Lehrstück über die gesellschaftlichen und psychologischen Auswirkungen einer von Propaganda inszenierten und durch Einschüchterung geprägten Realität. In Zeiten russischer Kriegspropaganda, die von „Entnazifizierung“ schwafelt und Oppositionelle mit konstruierten Vorwürfen vor Gericht zerrt, ist es ein Stück von bitterer Aktualität.

          Aber nicht nur das Stück selbst, auch sein Entstehungsprozess hat etwas über die heutige Zeit zu sagen. Evreinov schrieb es im Pariser Exil, wo er unter der Überschrift „Theater und Schafott“ Informationen über die Schauprozesse zusammentrug. In einer Szene wird eine „Oktjabrina“, eine Art bolschewistische Taufe, gezeigt. Evreinov, der Russland 1924 verließ, war offenbar nicht bekannt, dass dieses Ritual in den späten Dreißigerjahren dort kaum noch praktiziert wurde. Das zeigt, wie schwer es selbst für kundige Beobachter ist, über das Leben in einem sich abschottenden Russland informiert zu bleiben.

          Auf die Akten angeblicher „Staatsverbrecher“ wurde in der Sowjetunion „Aufbewahren für alle Zeit“ gestempelt. Für die Uraufführung Evreinovs ließe sich wohl sagen: Aufbewahrt für diese Zeit.

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