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Orchester und Corona : Volle Konzertsäle wären möglich

Diese Plexiglasscheiben zwischen den Musikern könnten auch überflüssig werden. Das Philharmonische Orchester Erfurt setzte sie im Juni bei den Proben zu den Domstufenfestspielen noch ein. Bild: dpa

Ein neues Papier von Charité-Medizinern um Stefan Willich sorgt für Wirbel: Es empfiehlt Orchesterkonzerte mit Publikum ohne Sitz-Abstand, aber mit Maske. Monika Grütters lobt es als wichtigen Schritt für die Öffnung des Musikbetriebs.

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          Etwa hundert Musiker auf der Bühne und knapp tausend Hörer im Saal, das schien kürzlich bei den Salzburger Festspielen noch eine unwirkliche Ausnahme in Zeiten der Pandemie zu sein. Es könnte aber bald wieder zur Norm werden, wenn man Stefan Willich, dem Leiter des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Berliner Charité, folgt. Er hat gemeinsam mit seinen Kollegen vom Institut für Hygiene und Umweltmedizin zwei Stellungnahmen vorgelegt, nach denen es vertretbar wäre, dass nicht nur die Orchester, sondern auch die Zuhörer wieder in voller Stärke die Säle füllen würden.

          Jan Brachmann
          Redakteur im Feuilleton.

          Die zwei neu veröffentlichten Positionspapiere sehen – unter Wahrung weiterer Hygienemaßnahmen – für Streicher nur noch einen Abstand von einem Meter, für Bläser, Schlagzeuger, Harfenisten und Spieler von Tasteninstrumenten von anderthalb Metern zueinander vor. Damit wäre eine übliche Orchesteraufstellung wie vor der Pandemie wieder annähernd möglich.

          Zusätzlich aber empfiehlt ein zweites Papier die Vollbesetzung der Säle – bei strenger Maskenpflicht. Während es sich beim Orchesterpapier um die Aktualisierung einer älteren Stellungnahme handelt, die damals wie jetzt in Abstimmung mit den Vorständen der sieben städtischen Orchester Berlins erarbeitet wurde, entstand das Publikumspapier in Eigeninitiative. Willich, der selbst auch Dirigent ist und mehrere Jahre die Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin als Rektor geleitet hat, hörte von einzelnen Intendanten, dass es für manche Häuser letztlich lohnender sei, geschlossen zu bleiben, als mit einer Auslastung von 25 Prozent zu spielen. „An den beteiligten Charité-Instituten haben wir uns die Frage gestellt: Sind die aktuellen Einschränkungen noch sinnvoll, oder gäbe es vernünftige alternative Empfehlungen?“, sagt Willich im Gespräch mit dieser Zeitung.

          In der Bahn geht es doch auch

          „Offen gesagt, war ich überrascht, dass das Thema Mund-Nasen-Schutz im Konzertbetrieb noch gar nicht aufgekommen ist“, erzählt Willich. „Denn im Flug- und Bahnverkehr, auch in den Schulen, wird das seit Monaten überall dort, wo die Sicherheitsabstände nicht eingehalten werden können, als selbstverständlich hingenommen. Wir haben jetzt diese Regelungen auf den Konzertbetrieb übertragen, mit der zusätzlichen Forderung nach einer guten Lüftung und weiteren konsequenten Hygienemaßnahmen. Und mit dem Hinweis, dass das Publikum klassischer Musik sehr diszipliniert auftritt: Die Menschen sitzen nebeneinander, sprechen nicht, halten sich in der Regel sehr verantwortungsbewusst an Vorgaben.“

          Nun herrscht in der Öffentlichkeit große Verwirrung um diese beiden Positionspapiere, weil sich der Vorstand der Charité von ihnen sofort distanziert hat. Ein bisschen voreilig war diese Distanzierung schon. Denn dass der Vorstoß nicht abgestimmt war, kann man den Medizinern nicht vorwerfen. Sie handeln als Institutsleiter eigenverantwortlich, und auch im Mai hatte es deshalb keinerlei Kritik an ihnen gegeben.

          Epidemiologische Belastung ist gering bis moderat

          Auch der Einwand, die Stellungnahmen würden das neuere Infektionsgeschehen nicht berücksichtigen, wird durch den Text selbst entkräftet: „Seit der Veröffentlichung unserer ersten Stellungnahme zum Spielbetrieb der Orchester während der Covid-19-Pandemie am 7.Mai 2020 hat sich die epidemiologische Situation bezüglich Neuerkrankungen (Inzidenz) und Anzahl der Erkrankten in der Bevölkerung (Prävalenz) stabilisiert“, heißt es zu Beginn der Empfehlungen. „Auch wenn in den letzten Wochen ein leichter Anstieg bei Neuinfektionen registriert wurde, ist die epidemiologische Belastung in Deutschland mit täglich fünfhundert bis eintausendfünfhundert gemeldeten Neuinfektionen (entspricht circa einer Infektion pro hunderttausend Einwohner) als gering bis moderat einzuschätzen. So sind zum Beispiel für über hundert Land/Stadtkreise in den letzten sieben Tagen überhaupt keine Neuinfektionen gemeldet worden (Robert Koch-Institut 2020).“

          Willich erläutert am Telefon, dass die Empfehlungen für das Orchesterspiel sich auf die neuesten strömungstechnischen Untersuchungen zu Tröpfchen und Aerosolen sowie auf die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation stützen. Zusätzlich empfiehlt er Corona-Tests für alle Musiker vor Spielzeitbeginn und nach jeder Tournee.

          Maske filtert bis zu 95 Prozent der Viren

          „Was das Publikum angeht“, führt Willich weiter aus, „so ist vor einigen Wochen in Kanada eine zusammenfassende sogenannte Meta-Analyse zum Mund-Nasen-Schutz veröffentlicht worden, in der alle relevanten Studiendaten zu dem Thema zusammengefasst wurden. Daraus geht hervor, dass der Mund-Nasen-Schutz, die chirurgische Maske, falls korrekt getragen, den Träger und sein Gegenüber zu neunzig bis fünfundneunzig Prozent vor der Viruslast schützt. Für das, was übrig bleibt, braucht man eine gute Belüftung, gegebenenfalls sogar die sogenannten Hepa-Filter, die verbleibende Viren aus der Luft eliminieren.“

          Auch der Vorwurf, hier würden unabgestimmte Handlungsrichtlinien in die Welt gesetzt, sticht nicht. „Niemand ist so blauäugig zu glauben, dass aus unseren Stellungnahmen gleich Handlungsempfehlungen werden“, sagt Willich selbst. „Unsere Argumente werden den Konzerthäusern helfen, in den Gesprächen mit Politikern zu einer weiteren Normalisierung des Spielbetriebs zu kommen. Viele Orchester haben unsere ursprünglichen Richtlinien vom Mai eins zu eins umsetzen können. So wird unsere aktualisierte Stellungnahme auch eine wichtige Argumentationshilfe bei der Anpassung der Richtlinien der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft sein.“ Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat die beiden neuen Stellungnahmen ausdrücklich als wichtigen Beitrag zur Diskussion einer weiteren Öffnung des Kulturbetriebs begrüßt, denn die geltenden Abstandsregeln seien ein großer Hemmschuh für den Spielbetrieb, der sich unter diesen Bedingungen wirtschaftlich nicht darstellen lasse.

          Stefan Willich plant unterdessen schon weiter: „Unser Charité-Institut startet eine große Studie, bei der wir im kommenden Winterhalbjahr zwischen Oktober und März bei vielen Profiorchestern und Chören in wöchentlichem Abstand alles erfassen, was an Infektionskrankheiten auftritt, um zu sehen, ob Streicher, Bläser, Sänger unterschiedlichen Risiken einer Covid-19-Infektion oder anderer Atemwegserkrankungen ausgesetzt sind oder nicht. Da gibt es schon jetzt eine große Kooperationsbereitschaft von zwanzig, dreißig großen Ensembles in ganz Deutschland. Man kann diese Studie auch als eine Art Monitoring im Sinne eines Frühwarnsystems verstehen.“ Dem Musikleben wird das auf lange Sicht dienlich sein.

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