Ultraschall-Festival : Erzengel Gabriel und ein heiliger Lärm
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Lothar Zagrosek dirigiert das DSO Berlin. Bild: Simon Detel/RBB
Selbstironie schlägt plakative Belehrung: Berlins „Ultraschall“-Festival für neue Musik beschreibt die Gefahren ästhetischer Überbietung und die Mittel dagegen.
Die Kulminationen in Stefan Prins’ „inhabit_inhibit“ sind zuerst körperliche Erfahrungen. Da gibt es Tiefton-Walzen, die direkt durch Knochen, Adern und Eingeweide schlagen; und am anderen Ende des Klangbandes Schrill- und Kreischfrequenzen, die durch Gehörgänge und -nerven direkt unter die Schädeldecke diffundieren, um diese ein weniges anzulupfen.
Kein Entkommen: die Musiker des von Max Murray koordinierten Ensemblekollektivs Berlin kreisen die zur Raute geordneten Zuhörer von allen Seiten ein. Einmal nähern sich Bassflöte, -oboe, -klarinette und Baritonsaxophon dem zentral postierten Flügel, um dessen Resonanzboden nicht nur anzublasen, sondern mit ihren Instrumenten auch, wie in einem elektroakustischen Massenbegattungsritual, direkt in diesen hineinzustoßen zu einigen jener Mikrofone und Kontaktstellen, auf deren Rückkoppelungseffekten der heilige Lärm der Fünfzig-Minuten-Komposition, live-elektronisch kompiliert und ausgeworfen, wesentlich basiert.
Wenn man sich dann aber darin sozusagen häuslich eingerichtet hat und eine Art hörmasochistischen Rausch durchlebt, brechen die Wellen. Das Werk endet leise auf einer letzten stehengebliebenen Frequenz – übereinstimmend mit der Mehrzahl weiterer Stücke, die während der vergangenen fünf Tage beim 25. Berliner „Ultraschall“, dem Neumusik-Festival von Deutschlandfunk Kultur und rbbKultur, zu erleben waren: Finale Apotheosen sind in der aktuellen Musik wenig angesagt. Trotzdem steht nach Verstummen die Frage, ob es nun eigentlich der Sturm der Erneuerung war, der einem da durch Hirn und Sinne pfiff, oder doch eher der schweflige Abwind eines sich unter Sauerstoffentzug selbst verdauenden und auflösenden Systems.
Wäscheklammern, Zahnbürsten, sirrende Streifen
Bei einem Stück wie dem des Belgiers kann sie durch die pure physische Wucht des Klangerlebnisses überschrieben werden. Bei kürzeren Dauern und kleineren Besetzungen wird das schwieriger, weil bisweilen die Accessoires der technischen Ausformung nicht mehr als Mittel zum Zweck, sondern fast schon als dieser selbst erscheinen. Neben der elektronischen Hybridisierung der naturerzeugten Klänge erscheinen momentan Joghurtbecher und -gläser besonders en vogue; es begegneten aber, nebst alten Bekannten wie Blechbüchsen und Folien, auch Wäscheklammern, Zahnbürsten oder schwingend sirrende Streifen, die bei Streichinstrumenten zwischen Steg und Saiten geklemmt wurden. Spieltechniken „zweiter Ordnung“ – Überblas- und Flageoletttöne, das Klopfen auf dem Korpus, stumm gedrückte Klaviertasten und vor allem die hoch beliebten und in der Summe des Festivals wahrscheinlich zu einem eigenen Stück synthetisierbaren Glissandi – stellten die konventionelle Tonerzeugung bisweilen in den toten Winkel.
Was dann aber scheinbar wiederum aufklärerischer Kommentierung bedarf: Von den vierzig aufgeführten Werken begnügten sich genau zwei – York Höllers Doppelkonzert und Helmut Lachenmanns erstes Streichtrio – mit ebendiesen blanken, allein auf das hörende Erschließen trauenden Gattungsbezeichnungen. Ansonsten begegneten zwischen „Mary / Transcendence after Trauma“ (Liza Lim) und „528 Hz 8va“ (Ying Wang) – dem ersten und letzten Stück dieses Jahrgangs 23 – allerlei anschmeichelnde („Blumentanz“) bis verklemmt intellektualisierende Titelkonstruktionen: nicht unbedingt ein Zeichen für künstlerisches Vertrauen ins Eigene und Eigentliche.
Ein kleines Bestiarium
Wobei es freie Geister schaffen, aus diesem Dilemma schon wieder so etwas wie Selbstironie zu schöpfen, wie die schon genannte Ying Wang, die außer dem erwähnten Orchesterwerk auch noch eine Miniatur „Glissadulation“ beisteuerte und darin das ewige Glissandieren gleichzeitig ernst und dennoch auf den Arm zu nehmen vermag: eingebettet in ein comic- und theaterhaftes, immer wieder einmal schnell den Vorhang hebendes und sich ebenso plötzlich zurückziehendes Gestikulieren.
Auch Claire-Mélanie Sinnhubers „Sieben Ausnahmen“ – eine Folge von ganz kurzen, doch öfter unerwartet um die Ecke biegenden Rhythmus-Miniaturen, fast ein kleines Bestiarium absonderlicher Klangcharaktere – zeigten einen ähnlich doppelbödigen, leise sarkastischen Humor. Es lag gewiss nicht an dem mit still-sachlicher Präzision agierenden Zafraan-Ensemble unter Miguel Pérez Iñesta, wenn nicht alle sieben aufgeführten Kurz-Kammerstücke solche Wirkung hinterließen: Oft fehlte schlicht eine schlüssige Dramaturgie, sei es im erzählerischen oder klangskulpturalen Sinne; statt der vielleicht erhofften musikalischen Haikus transportierten die Noten dann nur frei hängende Lückentexte.
Ein sternhaftes Zersprühen ins Freie
Eine noch weiter gespannte stilistische Vielfalt als das Kammerensemble hatte im Eröffnungskonzert das Deutsche Symphonie-Orchester unter dem so nobel-diskreten wie analytisch durchdringenden Lothar Zagrosek zu bewältigen. Zwischen der farbsatten, vielleicht ein wenig mystisch-pathetisch überladenen Mariendichtung Liza Lims um die Verkündigung der Geburt Jesu durch den Erzengel Gabriel und der streng organisierten und damit auch recht streng zu hörenden „Monadologie VII“ Bernhard Langs, einer hörenden Anverwandlung der Themen aus Arnold Schönbergs zweiter Kammersymphonie, erschien mit Carola Bauckholdts „Brunnen“ ein Stück intelligenter Alltagsklang-Aufarbeitung: schlicht neugierig, ohne moralisierenden Unterton und von der großartigen Solistin Séverine Ballon frisch und frech dargeboten. Fast lustig schon, wenn sie mittels kleiner Manipulationen ihre Cello-Klänge verholzen und verharschen lässt und das Orchesterblech dazu mäkelige Kommentare einwirft, als wäre man im Finale von Beethovens Neunter.
Kristine Tjøgersens „Habitat“ für elektronisch gestütztes Streichtrio hatte diese Lockerheit nicht annähernd. Ein statisches Tierstimmen-Tableau wie im Naturfilm, dann entklanglicht, vergraut, schließlich weggewischt und danach vielleicht nur noch Erinnerung: zu viel des plakativ Überdeutlichen.
Dennoch lohnte gerade dieses Konzert mit dem Trio Recherche, das gewiss auch bei der Norwegerin sein Bestes gab, aber vor allem mit der Gegenüberstellung der beiden Lachenmann-Streichtrios eine enorme Leistung an einfühlendem Feinsinn lieferte: Das schon genannte erste des damals Dreißigjährigen (1965) eine aphoristische Studie des Sich-Verlierens und Entgleitens der Klänge, die Nummer zwei, über 55 Jahre später, ein von Atemgeräuschen durchsetzter, in sich versunkener Abschiedsgesang mit langen, wie verwitterten Pianissimo-Klangbändern, tiefen Abwesenheiten und trocken knackenden Pizzicati, als würden Holzscheite im Feuer zerspringen oder dünne Äste gebrochen. Gegen Ende auch eine hektische Hetzjagd, aber schließlich ein sternhaftes Zersprühen ins Freie: „Mes adieux“. Alles – auch diesmal wahrlich nicht leichte – Spieltechnische erscheint hier genau wissend, wofür; und die Botschaft aus der Musik selbst, nicht aus ihrer Titulierung.