Molières 400. Geburtstag : Welche Rolle bekäme wohl Olaf Scholz?
- -Aktualisiert am
Die Behandlung des (liebes-)kranken Menschen ist eines der wiederkehrenden Motive im Werk von Molière, der wie als trotzige Pointe im Februar 1673 wenige Stunden nach der Uraufführung des von ihm dargestellten „Eingebildeten Kranken“ starb. Heute und morgen aber erinnern wir uns an den vierhundertsten Geburts- beziehungsweise Tauftag von Jean-Baptiste Poquelin, der aus einer angesehenen Tapeziererfamilie stammte, von Jesuiten erzogen und in Orléans zum Juristen promoviert wurde und erst 1644 den Künstlernamen Molière annahm. Zusammen mit Freunden gründete und leitete er verschiedene Schauspieltruppen, zog dreizehn Jahre lang durch die Provinz, heiratete mehrmals (bösartigen Gerüchten zufolge dabei einmal auch die eigene Tochter), trat am Hof des Königs auf, verursachte Skandale, wurde Opfer der kirchlichen Zensur und avancierte trotzdem (oder deswegen) zum erfolgreichsten Komödienautor aller Zeiten.
Geheime Faustformel
Er lebte und schrieb in einer Epoche relativer politischer Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwungs, in der das bürgerliche Theaterpublikum an Bedeutung gewann. Daher erzählen seine Stücke nicht nur Vorgeschichten des modernen Kapitalismus, sondern auch vom Aufstieg geltungsbewusster Kleinbürger zu protzenden Lebemännern und „lächerlichen Preziösen“. Molières Stücke – gerade ist beim Hörverlag eine Auswahl von Hörspielbearbeitungen unter anderem mit Will Quadflieg und Bernhard Minetti erschienen – kennen keine thesenhafte Didaktik, aber wenn es so etwas wie eine Programmatik gibt, dann kommt sie von den Moralisten des siebzehnten Jahrhunderts, die den Wert des mittleren Maßes und der menschlichen Vernunft hervorhoben. Immer dort, wo die Grenzen der raison exzentrisch überschritten werden – so lautet Molières geheime Faustformel –, beginnt es, lachhaft zu werden. Molières Menschenbild lässt sich nicht philosophisch abstützen, so der Romanist Jürgen Ritte, es bleibt im Rahmen der Familie, die als Keimzelle der Gesellschaft gleichzeitig immer auch das Vorzimmer ihres Verfalls ist.
Ihm sei es darum gegangen, „die Laster seines Jahrhunderts durch lächerliche Bilder anzugreifen“, lautet Molières berühmte Poetik. Dafür führte er die possenhafte Tradition der Commedia dell’Arte mit bissiger Gesellschaftskritik zusammen. Das größte Problem für die heutigen Ohren ist der Sprachstil, der immer leicht possierlich wirkende Klang der Alexandriner. Allerdings darf man nicht vergessen, dass durch das persiflierte Kauderwelsch auch gezeigt werden sollte, wie gefangen die Figuren in ihrer Sprache sind. Und doch verlängert fast jeder neue Versuch, Molière in freie Prosa zu übertragen, seine Haltbarkeit. Bekräftigt wird die auch durch die Ambivalenz seiner Wertvorstellungen. Es gibt keine Agitation bei Molière: man kann ihn als progressiven Autor lesen, der sich gegen die geschlechtliche Hierarchisierung von Liebesbeziehungen stellt, man kann ihn aber genauso gut auch als „proaristokratisch“ gesinnten Dichter interpretieren, der vor einer Auflösung bestehender Strukturen warnt.
Diese Widersprüchlichkeit ist es, die Molière auch heute noch aufregend macht. Auf deutschen Bühnen ist er schon lange ein Klassiker, was ihm die zweifelhafte Ehre der zeitgeistigen Bearbeitung einbringt (hervorgetan hat sich damit zuletzt der Pop-Allrounder Peter Licht). In Frankreich wird ihm zu Ehren morgen in der Comédie-Française erstmals die dreiaktige „Zensurfassung“ des „Tartuffe“ zu sehen sein, inszeniert von Ivo van Hove und übertragen in zweihundert Kinosäle. Die Zeiten, in denen ein Stendhal sich abfällig über den Altvorderen äußerte, sind vorbei. Auch Michel Houellebecq hat viel von Molière gelernt. Und unser Bundeskanzler? Zu ihm passt nicht zuletzt ein geflügeltes Wort aus dem „Bürger als Edelmann“: „Faire de la prose sans le savoir.“ Frei übertragen: „Bundeskanzler sein, ohne zu wissen, dass man einer ist.“