Alte Musik in Innsbruck : Mörder im Dienst des Vaterlands
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Der ausländische Prinz auf Brautschau in Moskau: Eric Price als Josennah zieht Julie Goussot als Axinia in Erwägung. Bild: Birgit Gufler
Strippenzieher mit politischer Agenda: Johann Matthesons Barock-Oper „Boris Goudenow“ wird bei den Innsbrucker Festwochen für alte Musik aufgeführt.
Warum hat der Hamburger Komponist, Sänger und Musikschriftsteller Johann Mattheson seine „sowohl der Poesie als Composition nach verfertigte“ Oper „Boris Goudenow” 1710 zurückgezogen? In seiner Autobiographie ist etwas nebulös von „gewissen Ursachen“ die Rede, die dazu geführt hätten, dass er „selbige dem Theatro zu überlassen Bedencken trug“. Wie kam er überhaupt dazu, die Geschichte vom Usurpator des Zarenthrons bereits 160 Jahre vor Modest Mussorgskys bekannter Version desselben Stoffs zu vertonen? Hat er das Stück, das jetzt bei den Innsbrucker Festwochen Alter Musik im Rahmen der Reihe „Barockoper:jung“ auf die Bühne kam, wirklich nur „zu seiner besondern Übung und Lust“ geschrieben? Auf ihre Uraufführung musste die musikalische Politkomödie jedenfalls fast dreihundert Jahre warten. Die im Zweiten Weltkrieg zusammen mit Matthesons anderen Werken ausgelagerte Partitur galt lange als verschollen. Erst 1998 kehrte sie aus Armenien nach Hamburg zurück und wurde dort 2005 konzertant sowie in Boston szenisch aus der Taufe gehoben.
Über Matthesons mysteriöse „Bedencken“ ist viel gerätselt worden. Dass er die Oper für misslungen hielt oder dem Theater am Gänsemarkt, für das sie entstanden war, nicht zutraute, ist unwahrscheinlich. Denkbar wäre eher, dass er sein Vorhaben auf Eis legte, weil er vielleicht befürchtete, die russische Gesandtschaft in Hamburg könnte empfindlich auf seine schonungslose Bloßstellung von Ränkespielen am Zarenhof reagieren. Die Hansestadt strebte damals gerade Handelsbeziehungen zum neu gegründeten Sankt Petersburg an. Der Fall liegt aber wohl komplizierter. Als Nachfolger seines vier Jahre jüngeren Freundes Händel, mit dem er sich wegen eines Streits auch lebensgefährlich duelliert hatte, war Mattheson 1704 in den Dienst des englischen Gesandten John Wyche getreten, um dessen Sohn zu unterrichten. Bald stieg er zu Wyches Gesandtschaftssekretär auf und war daher vertraut mit diplomatischen Interna. Hamburg stand zwar ökonomisch und kulturell gut da, war aber militärisch traditionell auf Schutzmächte wie Schweden und England gegen dänische Begehrlichkeiten angewiesen. Schweden büßte freilich damals seine Führungsrolle in Nordeuropa ein. Russland trat mit seiner Öffnung nach Westen als neuer Player auf den Plan.
Brutale Mechanik der Macht
Im Programmheft der Innsbrucker „Boris“-Produktion wird die Vermutung geäußert, Mattheson könne 1709 Überlegungen Englands mitbekommen haben, die Rolle Schwedens als Ordnungsmacht im Ostseeraum durch ein Arrangement mit Russland wieder zu stärken. Wenn es so war, habe Mattheson, dem Musiktheater als politischer „Türöffner“ in seiner Heimatstadt geläufig gewesen sei, eine Oper im Dienste dieses diplomatischen Ziels auf den Weg gebracht. Für eine solche Spekulation spräche die Tatsache, dass in Matthesons „Boris“ zwei „ausländische Prinzen“ mit den ominösen Namen Gavust und Josennah am Moskauer Hof auf Brautschau weilen, von denen einer unschwer als schwedischer Gustav, der andere als dänischer Johannes zu entschlüsseln ist. Während der Schwede am Ende Erfolg hat, wird der Däne als Schurke davongejagt: im Zusammenhang mit der Widmung der Oper an Matthesons Dienstherrn Wyche ein klarer Fingerzeig auf Englands entsprechende Pläne.
Matthesons Rückzieher würde sich dann aus der schlagartig veränderten Großwetterlage erklären, als 1710 bei den Unterhauswahlen die Tory-Opposition siegte und fraglich wurde, ob England als Garant für Hamburg nach wie vor den Kopf hinhalten würde. Die Message der Oper hatte sich erledigt. Ohne sie hätte die Aufführung womöglich noch die Russen vor den Kopf gestoßen. Der Untertitel „Der durch Verschlagenheit erlangte Thron“ nimmt ja auch kein Blatt vor den Mund. Bei der mit Pause dreistündigen Aufführung im Innsbrucker Haus der Musik wird schnell klar, dass hier die brutale Mechanik der Macht am Zarenhof drastisch aufs Korn genommen wird. Jean Renshaws ebenso rasante wie intelligente Inszenierung entfaltet das Stück mit satirisch bissigen Anspielungen auf aktuelle politische Vorgänge als zeitlos gültige Farce, die stellenweise an Shakespeares finstere Königsdramen gemahnt. Eiskalt lässt Boris seinen Vorgänger im Rollstuhl von einem kanonsingenden Chirurgenteam in blauen Arztkitteln mit Giftspritze, Kreissäge und Riesenschere nach allen Regeln der Heilkunst im Dienst des Vaterlands abmurksen – eine Szene, die in gruselig-grotesker Überzeichnung den Fall Nawalnyj herbeizitiert.
Lisa Moros Bühne und Anna Ignatievas Kostüme suggerieren ein russisches Heute, ohne sich allzu konkret festzulegen. Olivier Gourdy zieht als bassstarker Boris eher dezent die Strippen. Flore Van Meerssche steht ihm als resolute Zarengattin Irina mit höhenscharfem Sopran zur Seite, stößt aber in einer erschütternden Verzweiflungsarie mit weitgespannten Legatobögen über ausgedünnter Begleitung und zart ritzenden Pizzicato-Impulsen in satte Mezzotiefen vor. Auch die restlichen Mitglieder des jungen Solistenensembles beeindrucken durch engagierte vokale und schauspielerische Leistungen. Viele von ihnen haben Preise beim renommierten Innsbrucker Cesti-Wettbewerb für Barockgesang gewonnen. Das „historisch“ spielende Ensemble Concerto Theresia lässt unter Andrea Marchiols Leitung Matthesons reiche, vokal und instrumental virtuose Musik in all ihren prächtigen Farben aufblühen. Auch ihr ganz auf die Szene gemünzter Witz kommt hinreißend zur Geltung.