„Lulu“ an der Staatsoper Berlin : Kreuziget sie!
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Finstermänner vergreifen sich an Lichtgestalt: Georg Nigl und Jürgen Linn, mit Mojca Erdmann im Gepäck Bild: Bernd Uhlig
Lulu heißt das Opfer. So sind sie nun mal, die Frauen, findet Andrea Breth. Sie hat sich für ihre Neuinszenierung von Alban Bergs Oper eigens eine neue Fassung zusammengekürzt.
Es gibt wieder eine neue Fassung der Oper „Lulu“ von Alban Berg. Sie ist diesmal nicht aus Bergs Musik heraus entwickelt, vielmehr Folge und Ergebnis eines Regieeinfalls. Ausgerechnet Andrea Breth, die als letztes konservatives Bollwerk gegen die Pestilenz der Regietheaterwillkür Gefeierte - ausgerechnet sie hat jetzt als Erste diese alte, unsichtbare Grenze überschritten.
Bislang wurde ja die Gattung Oper durch die eigentümlich autonome Zeitorganisation der Musik weitgehend davor bewahrt, dass die Regisseure Text, Handlung und Personal nach Gutdünken umbauen, streichen, ergänzen oder neu erfinden konnten. Hängt ein schon etwas verwittertes Schild am Eingang zu allen Probebühnen dieser Welt, steht drauf zu lesen: „Du sollst nicht den Notentext antasten!“ Ab und zu hatten einzelne Opernregisseure, Konwitschny, Neuenfels, Herheim, an dieser Gesetzestafel gekratzt, den Fluss der Musik kurz unterbrochen oder umgelenkt. Doch so weit wie Andrea Breth hat sich (jedenfalls seit der Pasticcio-Mode der Barockzeit) keiner mehr vorgewagt. Das wird Folgen haben.
Kierkegaard als Prolog-Ersatz
Es fehlen in der an der Staatsoper Unter den Linden uraufgeführten Breth-Lesart von Bergs „Lulu“: der Prolog (das sind etwa viereinhalb Minuten), der Dialog Lulu/Maler aus Szene zwei des ersten Akts (etwa drei Minuten), außerdem die erste Szene des dritten Akts (neuneinhalb Minuten), weitere Sprech-Passagen und andere Kleinigkeiten.
Neu hineinmontiert wurden: zwei Todesschreie vom Tonband, etliche zusätzliche Instrumente für die von Richard Coleman auf Breths Wunsch hin neu bearbeitete zweite Szene des dritten Akts, darunter ein Harmonium, ein Marimbaphon, Steeldrums, Kuhglocken à la Mahler, außerdem ein Akkordeon sowie ein sehr hübsches Zitat über das Erinnern und Vergessen von Søren Kierkegaard.
Das Zitat ist dem Werk „Entweder-Oder“ entnommen, es wird gleich am Anfang, als Prolog-Ersatz, von einem wie tot am Boden liegenden Herrn aufgesagt, der sich kurz danach als Lulus erster Ehemann (Wolfgang Hübsch) entpuppt. Anders als der von Berg komponierte Prolog des Zirkus-Tierbändigers transportiert das Zitat aber natürlich keine Musikmotive, die am Ende der Oper sinnstiftenderweise wiederauftauchen könnten; es hat auch keine weitere Funktion, außer der, hübsch zu sein, und ähnelt so den bei Dramaturgen allezeit beliebten Programmheft-Mumpitz von, wahlweise, Barthes-, Foucault-, Bataille-, Marx- oder Novalis-Sätzen, die ein Rätsel mit einem anderen erklären und dergestalt für gebildete Platz- und Zeitvernichtung sorgen.
Auf dem Schrottplatz der Moderne
Dann: der Todesschrei der Lulu. Damit geht das Stück in der Breth-Fassung los. Der Schrei wiederholt sich nach drei Stunden, am Schluss. Beide Schreie, clusterartig aufgeputscht vom Orchester, tönen aus Lautsprechern im Zuschauerraum. Solche Todesschreie aus dem Off haben auf der Opernbühne eine eigene Tradition. Bei der „Elektra“ von Richard Strauss zum Beispiel dreht sich die Diskussion schon seit Ewigkeiten darum, ob die Sängerin der Klytämnestra den Mut hat, selbst zu schreien oder ob sie, zur Schonung der eignen Stimme, ein Double schreien lässt. Mojca Erdmann, die der Lulu in Berlin ihre glatte, kühle Pamina-Stimme mit den anbetungswürdig treffsicheren Höhen leiht, schreit nicht selbst. Sie ist ja kein Monster, nur ein ätherisches Wesen, eine elfenhafte Geistererscheinung, ein silbriger Fisch. Wenn man sie sticht, blutet sie nicht.