„Kreatur“ von Sasha Waltz : Die Wollust der präzisen Formulierung
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So schön kann Tanz sein, der einfach neue Welten schafft: Szene aus „Kreatur“ von Sasha Waltz Bild: Reuters/Stefanie Loos
Jeder Minute des anderthalbstündigen Werkes merkt man an, wie sorgfältig und geduldig es durchdacht und gestaltet wurde: In Berlin wird Sasha Waltz’ großartiges neues Tanztheaterstück „Kreatur“ uraufgeführt.
Unabhängig davon, ob die Berliner Choreographin Sasha Waltz in den letzten Jahren mit dem eigenen Ensemble „Sasha Waltz & Guests“ arbeitete oder an Opernhäusern in tänzerischen Inszenierungen Gesang und Bewegung verschmelzen ließ, balancierte sie mit ihren Abenden meistens auf dem berühmten schmalen Grat zwischen faszinierender Innerlichkeit und Kitsch. Mal fielen Teile von Inszenierungen herunter, mal ganze Abende. Der rauhe, eindringlich-brutale und direkte tänzerische Zugriff auf das Leben im Berlin der Postmoderne, der ihre frühen Choreographien wie „Travelogue – Twenty to Eight“ oder „Allee der Kosmonauten“ so unwiderstehlich gemacht hatte, wich einer glatteren, erwachseneren, das Ästhetische zelebrierenden Handschrift. Das ging gut in „Körper“ im Jahr 2000, ihrem Einführungsstück als Schaubühnen-Tanzdirektorin. Es ging dann furchtbar schief in „S“, dem Folgestück. Seither ist da immer dieses Schwanken, dieses Balancieren, und der Zweifel des Zuschauers, ob nicht das Erlesene wieder um seiner selbst willen präsentiert wird. Phantastisch gelang ihr zuletzt 2012 das Tanzprojekt „Carmen“ mit Jugendlichen und den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle: ungekünstelt, sicher im Dramatischen wie in der Leichtigkeit und Ironie, ganz großes Tanztheater mit Teenagern.
Nun, da ihre Zukunft als Ko-Direktorin des Berliner Staatsballetts ab 2019 gesichert ist, präsentiert Sasha Waltz ein weiteres Mal im Radialsystem eine Uraufführung mit ihren eigenen Tänzern, hier neun Frauen und fünf Männern. Das erste Bild der neuen Choreographie „Kreatur“ löscht die Zweifel, ob der Abend nur als neu im Sinne einer weiteren Waltz-Produktion – anderer Titel, selbe Themen – oder neu auch für sie selbst einzuschätzen sei, nicht gleich aus. Zu lange schon schweben durch ihre Tanzstücke eben originell gekleidete Wesen in idiosynkratischen, aber sehr gefühlvollen Bewegungen. So auch hier. Ihre Tänzerauswahl allein ist bemerkenswert. Jede und jeder für sich sieht so ungewöhnlich aus, ungewöhnlich in der Art von Tilda Swinton oder Björk.
Nennen wir es im Arbeitstitel „Berliner Ästhetik“ – manche Ensemblemitglieder sind sehr klein, andere sehr groß, haben sehr lange Füße oder sehr breite Hüften, sehr blassen Teint oder sehr gefärbtes Haar, tätowierte oder gepiercte Haut – egal, es sind Merkmale, die in ihrer Häufung und Verteilung in einem Bühnenensemble absichtsvoll zusammengestellt wirken und interessanterweise das Private an den Tänzern gegenüber der Bühnenpersönlichkeit betonen. Das ist gleichsam ein zusätzliches Statement zum Thema Schönheit, das einleuchtet, aber manchmal ablenkt von Inhalten.
Zeitgenössische Eleganz und Unaufdringlichkeit
„Kreatur“ beginnt, indem sechs in silberwollen locker gehäkelte, voluminöse, Hüllen gekleidete Frauen wie übergroße ausgefranste Riesenperücken mit Beinen nach und nach auf der Bühne erscheinen. Dergestalt vom Kopf bis über den Po eingesponnen, kann man diese beweglichen Larven als nur in hautfarbene Slips gekleidete barbusige Individuen erkennen. Beats vom „Soundwalk Collective“ unterstreichen noch den Eindruck einer Museumsperformance. Über die hintere in einem magisch tiefen Anthrazitgrau gehaltene Wand läuft horizontal auf mittlerer Höhe ein an den Rändern unscharfer Lichtstreifen, als hätte Lichtdesigner Urs Schönebaum an Mark Rothkos Bilder gedacht und etwas Metaphysik in sein Handwerk bringen wollen.