https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/klangkuenstlerin-antye-greie-13116577.html

Klangkünstlerin Antye Greie : Wir sind auch gut in Moskitos!

  • -Aktualisiert am

Aus der lärmenden Techno-Szene Berlins in die Stille und Einsamkeit der finnischen Insellandschaft von Hailuoto: Antye Greie beim Soundcheck Bild: Antye Greie

Die Multimedia-Künstlerin Antye Greie zeigt Kindern auf der finnischen Insel Hailuoto, wie man die Welt mit den Ohren entdeckt. Wind, Wald, Schnee und Wellen liegen vor der Tür, und für den Klang eines Traktors gibt es eine App.

          6 Min.

          Antye Greie ist Klangkünstlerin, Musikerin, Dichterin. Sie ist umgezogen in ihre Wahlheimat ans Ende der Welt. Die Insel, sie heißt Hailuoto, liegt eine halbe Fährstunde vor der finnischen Westküste, nicht einmal zweihundert Kilometer vom Polarkreis entfernt. 999 Einwohner, vier Ausländer. Greie ist eine der vier, sie mischt jetzt die Kulturszene der Insel auf, mehr noch, sie hat diese Insel in einen internationalen Magneten für Gegenwartskunst verwandelt.

          Greie sitzt im „Lab“, ihrem Arbeitsraum im Dorfkern, mitten auf der Insel. Der Raum ist durchzogen von Kabeln. Auf zwei Tischen iPads, Laptops, Synthesizer, Boxen, aus denen runde Klänge kommen, Rauschen, Surren, Bässe, Peaks. Vor dem Fenster ein Parkplatz, der zu einem von zwei Supermärkten auf der Insel gehört, daneben die Inselbank. Dahinter beginnt der Wald: dichte, dunkle Märchenkiefern, dazwischen grasgrüne, luzide Birkenblätter. Antye Greie trägt einen praktischen Parka und einen langen Zopf. Sie sei aufgewachsen im „Tal der Ahnungslosen“, in der DDR, sagt sie. Später zieht sie nach Berlin. Erlebt in den Neunzigern, wie Clubs in die leer stehenden Bauten in Ostberlin ziehen, die zu Schutzräumen für die Techno-Szene werden. Sie macht Musik, spielt in Clubs, jettet um die Welt. Bis sie müde wird, keine Lust mehr hat auf die Szene.

          „Pad Boys“ und „iGirls“

          Auf Hailuoto gibt es keine Clubs, nicht mal ein Kino. Der Wind ist da, Stimmen aus dem Wald, aus dem Meer. Für Greie ist die Natur der Stoff für ihre Arbeit: „Meine Idee war, in die Natur zu gehen und mit digitalen Mitteln Musik zu machen. Erforschen, wie sich das anfühlt: Im Wald zu sitzen und Beats zu machen, ja, wie fühlt sich das an?“ Das kann wohl nur jemand verstehen, der dort ist, in diesem „space“, wenn man zwischen Kiefern und Preiselbeersträuchern auf silberfarbenen Flechten sitzt, wo es nach Moos riecht und nach dem salzigen Wind vom Meer. „Ich habe gemerkt, es geht nicht darum, das aufzuzeichnen und irgendwem in der Stadt vorzuspielen. Man muss es hier gemeinsam machen.“

          Das ist auch die Grundidee von „Hai Art“, Greies künstlerischem Multi-Media-Projekt mit Klanginstallationen in ungenutzten Gebäuden, im Wald oder am Strand. Sogar die Fähre zum Festland ist für sie zur Bühne geworden. Das lockt nicht nur finnische Städter an, auch andere Künstler und Komponisten aus Deutschland, Kanada oder Mexiko. Sie kommen zu Besuch nach Hailuoto oder als „artists in residence“, erste Anlaufstation ist für alle immer das Lab - ebenso für die Kinder der Insel, die nach der Schule herkommen, um Musik zu machen.

          Am Boden sitzt Topias, zwölf Jahre, ein iPad auf dem Schoß. Er bewegt seine Finger auf dem Touchscreen und entlockt dem Gerät Töne. Topias ist einer der „Pad Boys“, die neben den „iGirls“ zu einem Vorzeigeprojekt von Hai-Art gehören, zum iPad-Orchester: Kinder zwischen sechs und sechzehn arbeiten mit speziellen Soundprogrammen, die Greie entworfen hat, und erfinden auf dem Touchscreen ihre eigene, neue Musik. „Wir spielen auch live, wie eine richtige Band“, sagt Topias. „Gitarre, Bass und one two three four . . .“ Greie, neben ihm, sucht an einem Rechner ein paar Demo-Videos heraus und freut sich: „Ich glaub’, so was gibt’s nur in Hailuoto! Dass Kinder Originalmusik schreiben in Gruppen - eine Weltsensation!“

          Kunstprojekte mit Szenegrößen

          Die Technologie, sagt sie, sei doch eigentlich simpel. Zum Beweis öffnet sie am iPad die Sounddrop-App. Auf dem Bildschirm flimmern Punkte, die Greie mit dem Finger verbindet. Die entstehenden Linien klingen absteigend oder aufsteigend, je nachdem, wie sie gezogen werden. Man kann kreisförmige Verbindungen herstellen oder die Konstruktion drehen, bis sie aussieht wie eine chemische Verbindung. „Elektronische Musik hat Soundwellen, jede klingt anders“, sagt Greie. Deshalb seien die musikalischen Möglichkeiten unerschöpflich.

          Antye Greie, vierundvierzig, macht mit so viel Leidenschaft so viel Kunst, dass die kaum in den Tag hineinpasst. Eines ihrer großen Themen ist der Wind. Sie hat ein Gedicht geschrieben, nein, gesampelt: „Wind is now . . . Wind is in the heart of the events . . . Wind is like a breathing concept . . .“, und natürlich wird der Wind auch zu Klangkunst, zum Beispiel im „Soundchor“, den Greie gleich anfangs, vor fünf Jahren, gegründet hat: „Wir machen Sounds nach, von Wind oder Wellen zum Beispiel. Unsere Spezialität ist Wind. Wir sind aber auch gut in Moskitos!“

          Früher lebte Greie anders. Sie hatte Kunstprojekte mit namhaften Szenegrößen wie dem Komponisten Craig Armstrong, der französischen Elektronik-Legende Eliane Radigue oder Kaffe Matthews. Mit Gudrun Gut, der Grande Dame der Elektro-Szene, gründete sie das Projekt „Greie Gut Fraktion“. Sie wurde eingeladen zu Festivals wie dem Sonar Barcelona, der Transmediale Berlin oder Roskilde ebenso wie von Kulturinstituten, etwa dem Pariser Centre Pompidou oder dem ICC Tokyo.

          Skilaufen auf dem Meer

          Irgendwann aber hatte Greie von den Großstädten genug. Und sie wollte raus aus Berlin, raus aus dem „Fast-Lane-Leben“. Mit ihrem Freund, dem finnischen Elektro-Musiker Vladislav Delay, bekam sie ein Kind. Spätestens als sie sich mit ihrer Einjährigen am Spielplatz an der Rutsche anstellen mussten, war klar: Wir gehen nach Finnland. Aber wohin genau? Sie suchten die Landkarte ab nach Orten, die möglichst nahe am Flughafen liegen. Die Familie flog nach Oulu in Nordfinnland, setzte mit der Fähre über, und als sie in Hailuoto am Strand standen, ungefähr da, wo heute das Haus steht, wussten sie: Das ist es. „Diese Kombi aus Ostseeinsel mit langen weißen Stränden, wo nie jemand ist, hat etwas Arktisches. Dazu dieses Côte-Azur-Feeling . . .“ Aber was ist mit der Dunkelheit? Der Einsamkeit? Den langen Wintern? Diese seltsam schweigsamen Finnen mit ihrer noch seltsameren Sprache?

          Klangskünstlerin und Autorin: Antye Greie in ihrem Haus auf Hailuoto
          Klangskünstlerin und Autorin: Antye Greie in ihrem Haus auf Hailuoto : Bild: Jenni Roth

          „Ich finde Winter in Berlin tausendmal schlimmer als die hier“, sagt sie und meint, man könne das sowieso nicht vergleichen: In der Natur sei jedes Wetter auf seine Weise faszinierend. Sicher, manchmal ist es schwer. Wenn das Quecksilber weit unter null rutscht, es noch nicht geschneit hat und die Insel fast nackt daliegt in der Dunkelheit. Wenn die Morgendämmerung einfach ausfällt und das dunstige Grau gleich in die Abenddämmerung übergeht. Aber der Schnee kommt, früher oder später. „Und dann gibt es dieses Licht, pink oder orange, wunderschön! Besonders der März, wenn alles schon licht ist und weiß. Wir gehen Skilaufen auf dem zugefrorenen Meer, ich kenne nichts Schöneres. Totale Stille. Manchmal leg’ ich mich einfach in den Schnee und liege da. Das ist wie ein Wunder, das kriegste nirgends.“

          (Die Touristinformation von Hailuoto unterlegt Bilder von der Insel mit Klängen von Antye Greie und Vladislav Delay)

          Noch liegt kein Schnee auf Hailuoto. Greie ist in ihrem Geländewagen auf dem Weg nach Marjaniemi, dem Westzipfel der Insel. Fast zwanzig Kilometer sind das von der Inselmitte, immer geradeaus. Am Straßenrand endlose grün-weiße Wälder aus Birken und Kiefern, immer wieder Reihen von Briefkästen, die zu den verstreuten, typisch roten Holzhäusern gehören. Greie lacht: „Als Ossi habe ich Probleme mit diesem stolzen finnischen Rot. Für mich ist das ein totales Ostrot. Es gab ja nur drei Farben im Osten, Schwarz, Weiß, Grau. Und dann dieses Rot.“

          Das Studio ist ein Holzhaus

          Auch anderes erinnert sie immer wieder an die DDR: keine Werbung, viel Platz, das einfache Leben. In Marjaniemi treibt das Meer den Wind vor sich her aufs Land, die Einöde scheint so endlos wie die grau schäumende Ostsee. Ein perfekter Inspirationsort! Erst im Frühjahr war die Elektro-Musikerin Kaffe Matthews hier. Dagelassen hat sie ihre „Sonic Bikes“, die mit jeweils zwei Boxen und einem GPS-Gerät ausgestattet sind. Kaffe machte Aufnahmen von den Geräuschen am Waldrand oder von den Windturbinen im Hafen und verwandelte sie mit digitaler Technik in musikalische Fragmente, die sie mit bestimmten Orten verknüpfte. Wer sich jetzt auf eines ihrer Sonic Bikes setzt, hört, zum Beispiel, das auf diese Weise komponierte „The Marja trio“ und kann je nach Route das Werk rekomponieren.

          Nach der Radtour präsentiert Greie das „Studio“: ein verwittertes Holzhaus, drei schmale Stockwerke hoch. Knarzende Stufen führen ins Dachgeschoss, man muss den Kopf einziehen, um nicht an die schrägen Holzbalken zu stoßen. Voriges Jahr hat der Berliner Klangkünstler Carsten Stabenow hier eine Installation gebaut, die immer noch zu hören und zu sehen ist. Durch den Raum sind Saiten gespannt, kreuz und quer, die leise schwingen, mal kaum hörbar, mal rauschend laut. Je nachdem, wie der Wind draußen weht, ob es regnet oder schneit: Ein Sensor auf dem Dach reproduziert mit Mikro-Signalen eine konstante Live-Sonifizierung der Außenwelt. Manchmal halten Reisebusse hier, die Touristen kommen. Und natürlich die Insulaner selbst. Das ist genau, was Greie vorschwebt: „Dass die experimentelle Musik, die ich so liebe, nicht nur ein paar klangkunstinteressierte Nerds berührt.“

          Aber Antye Greie geht es nicht um „l’art pour l’art“. Sie wünscht sich eine transformative Kunst, die sich mit „echten Problemen“ beschäftigt, mit politischen und gesellschaftlichen Symptomen. Damit folgt sie einem weltweiten Trend, überall gehen Künstler aus den Städten, werden in abgelegenen Gebieten aktiv, um ihre Kunst im öffentlichen Raum zu zeigen, nicht in Museen oder Galerien.

          iPad-Orchester im Altenheim

          Kürzlich hatte Greie eine Künstlerin aus Fukushima eingeladen: „Stones for Phyäjoki“ hieß das Projekt - Teil einer Kampagne gegen ein Atomkraftwerk, das nur zweihundert Kilometer von Hailuoto entfernt gebaut werden soll. Sie veranstaltet Workshops, Konzerte, verteilt Plakate und Flyer in ganz Finnland. Viele Insulaner sind ganz ihrer Meinung - auch wenn sie das nicht sagen. „Alle sind eigentlich geschockt, aber keiner will seinen Namen dafür hergeben. Das ist sehr finnisch - und ein bisschen wie in der DDR. Finnen sind extrem regierungsgläubig, nach dem Motto, ach, da kann man eh nichts machen.“

          Immerhin: Der Inselpfarrer hat sich, auch auf ihren Wunsch hin, gegen das Atomkraftwerk ausgesprochen. Und sie, die Atheistin, und er, der Gottesprediger, teilen noch andere gemeinsame Interessen. Kürzlich fragte der Pastor sie, ob sie nicht die Vierzigjahrfeier der neuen Kirche, die nach einer Brandkatastrophe gebaut wurde, mitgestalten wolle. Am Ende bauten sie eine Vier-Kanal-Live-Installation in der Kirche auf. „Ich habe elektronische Musik gespielt, die auf meinen Field Recordings basiert, er hat dazu die Geschichte nacherzählt.“

          Auf dem Weg zurück ins Lab holt Greie ihre Tochter Lumi bei einer Freundin ab, die, natürlich, auch Teil ihres iPad-Orchesters ist. Lumi - finnisch für „Schnee“ - war mit dabei, als die Schüler eigene „Sound Apps“ erfanden, Greie zeigt uns Skizzen dazu: eine Eiszapfen-App, die anfängt zu klingen, wenn die Zapfen schmelzen. Eine Traktor-App, eine Hochhaus- und eine „Mood-App“, bei der verschiedene Stimmungen gemischt werden. Die Vorzeige-App aber ist die bunt verfremdete Landkarte einer Insel: „Auf dieser App sind Klänge von Hailuoto - damit kann man unsere Insel bespielen!“ Als nächstes Projekt will Antye Greie ein iPad-Orchester im Altenheim von Hailuoto aufbauen. Nebenher schreibt sie weiter an ihren Gedichten, die sie in Klangkunst verwandelt, gleich nebenan, in dem Studio, das aus dem wabenförmigen Riesenfenster den Blick freigibt auf diesen „endlosen finnischen Space“.

          Weitere Themen

          Es geht ums Überleben

          Grüner Schnee : Es geht ums Überleben

          Die Region Flims Laax will bis 2030 klimaneutral werden, ein ambitioniertes Ziel, in das Millionen Franken fließen. Aber auch wir müssen verstehen, dass die Natur keine Spielfläche ist - besonders eine Generation.

          Zu schwer für diese Welt

          Theaterpremiere in Wien : Zu schwer für diese Welt

          Zu schwer füreinander: Mateja Koležnik inszeniert Horvaths „Kasimir und Karoline“ am Wiener Burgtheater. Kein schlechter Abend, aber statt ums Gemüt geht es ihm vor allem um Stimmung.

          Topmeldungen

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.