„Kinderkriegen“ in München : Eltern schunkeln im Gesellschaftsstrudel
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Bunte Kinderlose und Kindererzeuger: Szene der Uraufführung von Kathrin Rögglas „Kinderkriegen“ Bild: dpa
Ein bisschen Mutter gibt es nicht im alltäglichen Familien-Irrsinn: Tina Lanik inszeniert Kathrin Rögglas „Kinderkriegen“ liebenswert verrückt in München.
Entschuldigung, war das da gerade ein Kind? Ist da gerade ein Kind über die Bühne gerannt? Eines, das seinem infantilen Vater zum Verwechseln ähnlich sah, während der kopfüber von der Decke hing, gegen die Manneskraft hinter seiner feinen Falsettsingstimme und gegen die Schwerkraft eines gelben Luftballons ankämpfte? Entschuldigung, aber das kann nicht sein. Bloß weil diese Uraufführung „Kinderkriegen“ heißt, müssen ja noch lange keine darin auftreten. Überhaupt sind Kinder hier auch gar nicht das Problem, nicht mehr als eine kausale Begleiterscheinung. Das Problem sind ihre Eltern.
Denn „diese Mütter, die es jetzt überall zu geben scheint“, besitzen viel mehr als nur die gemeinsame Mittelschichtsmission, Großstadtdeutschland und damit die Welt vorm Aussterben zu retten. Als ehrgeizige „Kinderkonkurrentinnen“ im Elternclub steht die Generation Nachwuchs - von der Geburtsvorbereitung im Chatroom bis zur Überforderungsnachbereitung in der Burnout-Klinik - nicht nur vor dem existentiellen Problem, ihr Gewicht zu halten, sondern auch im Wettstreit um Ansteckungskrankheiten, Inselbegabungen, Einschlafrituale, basisdemokratische Montessoriansätze, um Bugabootzemann und Retrorollenklischees.
Aufwärts Richtung Horizontale
Ein bisschen Mutter gibt es nicht, und der Globus ihrer unstillbaren Mitteilungsbedürftigkeit zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufopferung dreht sich unstoppbar reflektierend rasend um sich selbst. „Haben Sie keine anderen Freunde? Nur Elterndisco? Elternamüsement?“ In der Konsequenz dieser leicht überschätzten Alleinunterhaltungswerte steht die Auftragsarbeit für Martin Kusejs Münchner Residenztheater auf der Bühne des Cuvilliéstheaters: Sie zeigt einen alltäglichen Irrsinn, mit spitzer Zunge zugespitzt und angespitzt auf die Spitze gebracht durch zwei Mütter, Kathrin Röggla und Tina Lanik, die eine Autorin, die andere Regisseurin, die von sich selbstironisch Abstand nehmen und dabei doch die Schmerzgrenze auf Augenhöhe mit dem Kinderwagen halten. Das Stück ist böse, aber nicht gehässig, die Inszenierung verrückt, aber auf liebenswürdige Weise, das Ganze bedrohlich, aber mit einem Augenzwinkern. Tut es überhaupt irgendwas? Jawohl: Es schunkelt, schwankt, schwappt und schnappt, nicht selten auch mal über.
Stefan Hageneiers Bühne ist ein überlebensgroßer Geburtskanal und gigantischer Lautsprecherkonus, ein begehbarer Gefühlstunnel und Gesellschaftsstrudel ohne oben und unten, der Eingang oder Ausgang von allem und nichts - oder auch, für den Gesamteindruck: das faszinierend schwarze Loch im Rokokotheater. Das allein schon hält die acht Protagonisten in absurder Hamsterrad-Bewegung: aufwärts Richtung Horizontale. Denn warum sollten Eltern nicht auch noch imstande sein, physikalische Gesetze auszuhebeln? Vergebens. Kathrin Röggla wäre keine preisgekrönte Gegenwartsautorin, wenn sie ihren vier Schauplätzen ICE, Wellnesshotel, Pampa und Kinderarztpraxis nicht ein Stück gesellschaftssatirische Mittelstandsbestandsaufnahme auf den Rohbau geschrieben hätte. Weniger brisant und brillant als von der ironisch bündelnden Feldforscherin gewohnt (dafür ist dies Trendthema zu alltagspräsent), lässt sie dann ihre acht Fremden in einer Art Notgemeinschaft übers Kinderkriegen assoziieren.
Feinmusikalische Elektro-Wehen
„Vielleicht ist es ein Virus“, mutmaßt Miguel Abrantes Ostrowski als luftiger Lufthansamensch Hans, während er die flatterhafte Kinderlose, gespielt von Hanna Scheibe, einzufangen versucht. Und schon haben Hans und der Gruppenzwang die Kinderlose geschwängert. Der methodische Wahnsinn in Wort und Bild macht oberflächlich Spaß: Friederike Otts resolute Rabenmutter-Lässigkeit im Kontrast zu Juliane Köhlers hysterisch Haare raufenden Spätgebärenden-Gebärden bei der Erinnerung ans Waldorf-Mobbing; Gunther Eckes als alternativer Engagierter, der sich beeilt, seinem unsichtbaren Sohn Henry jeden Wunsch von den Lippen abzulesen; das gesamte Ensemble inklusive Oma, Spätberufenem und Bundestagsabgeordneten, wenn es sich zu immer neuen Formationen zusammenschart, um chorisch darauf hinzuweisen, wer jetzt eigentlich singen wollte, aber nicht wird. Denn Röggla hat ihrem Werk genau deshalb den Untertitel „Ein Musikstück“ verliehen, um die Musik darin deutlich fehlen zu lassen.
Entschuldigung, war das da gerade ein Lied? Hat da gerade jemand ein Lied gesungen? Ja, sie tun es doch, und zwar alle. Genauso wenig wie das rennende Kind mit dem melancholisch-plakativen Sekundenauftritt ein Hirngespinst gewesen ist, vertraut Laniks Inszenierung auf die Kraft der Trostlosigkeit. Und so holt sie die Münchner Band Pollyester mit in den Geburtskanal, damit die von Zeit zu Zeit gemeinsam mit den Schauspielern feinmusikalische Elektro-Wehen streut. Pollyester-cool und total unmotiviert. Zum Kinderkriegen.