Keine Gefühle aus dem Portemonnaie
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Adam Harasiewicz im Jahre 1966 Bild: Intereuropa Produktion
Mit Mut, Stolz und Geschmack siegte der polnische Pianist Adam Harasiewicz 1955 beim Chopin-Wettbewerb in Warschau. Als Interpret ist er Aristokrat durch und durch. Jetzt feiert er seinen neunzigsten Geburtstag.
Eine „seltene Vornehmheit des Stils“ hatte Franz Liszt seinem Freund Frédéric Chopin in seinem großen Aufsatz von 1852 attestiert. Und wer jemals Gelegenheit hatte, den polnischen Pianisten Adam Harasiewicz am Klavier oder im Gespräch zu erleben, mag sich an dieses Urteil erinnert fühlen, ebenso an einen Satz aus der gleichen Hommage: „Haltung und Manieren trugen ein so vornehmes Gepräge, dass man ihn unwillkürlich wie einen Fürsten behandelte“.
Die Filmbilder vom Finale des Internationalen Chopin-Wettbewerbs 1955 zeigen den dreiundzwanzigjährigen Harasiewicz mit heiterer Tollkühnheit. Er siegte durch seinen Mut, seinen Stolz, aber auch durch seinen Geschmack und das, was Baldessare Castiglione 1528 als „nobile sprezzatura“ beschrieben hatte: eine ausgestellte Mühelosigkeit, oder fast müsste man sagen: einen geradezu provokanten Mangel an sichtbarem Ehrgeiz.
Chopin selbst – als misstrauisch, zurückhaltend, leise, aber auch als spöttisch beschrieben – war von allem Sensationellen in der Musik, vom Imperativ des Werbens in einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, angewidert: „Unter den Bürgerlichen hier muss man etwas Verblüffendes, Mechanisches bieten, was ich nicht kann“, bemerkte er während seiner Englandtournee 1848, als er den geschützten Raum des adligen Salons verlassen musste für den Markt von Bezahlkonzerten. Harasiewicz, der seit dem Warschauer Sieg 1955 seine lange pianistische Karriere fast ausschließlich Chopin gewidmet hat, sagte noch vor Kurzem in einem Interview über seine Tätigkeit als Juror beim Chopin-Wettbewerb, dass sich eine gute Chopin-Interpretation durch den Verzicht auf Übertreibungen auszeichne: kein extremes Pianissimo, kein extremes Fortissimo, ein natürliches Tempo rubato, also die Fähigkeit zu logisch erscheinenden Freiheiten im Zeitmaß, kein Ausstellen von Empfindungen, sonst „kommt das Gefühl nicht aus dem Herzen, sondern aus dem Portemonnaie“. In diesem Bewusstsein einer Verquickung von Musik und Merkantilismus, von Kunst und Markt, hat Harasiewicz stilistisch immer seine aristokratischen Entscheidungen gegen den bürgerlichen Handelstrieb getroffen.
Die Zielstrebigkeit und zugleich Freiheit, mit denen er das Nocturne Fis-Dur op. 15 Nr. 2 angeht, zeigen eine streitlustige Grandezza im Zarten. Die Sorgfalt, mit der Harasiewicz die unterschiedlichen Notationsweisen ähnlicher Verzierungen in den Mazurken Chopins klanglich ausbuchstabiert, ist bestechend, aber nicht verklemmt. Freilich schreckt er vor den wirklich grausigen Seiten Chopins, etwa in dessen b-Moll-Sonate oder den Scherzi, zurück und ebnet die Gestaltung von Extremerfahrungen ein zu einem Klassizismus, der in diesen Werken gerade aufgebrochen und nicht befestigt wird.
Auch manche Freiheit älterer polnischer Chopin-Interpreten wie Ignacy Friedman, Raul Koczalski oder Ignacy Jan Paderewski, etwa die Unabhängigkeit der Hände, ist in seinem Spiel einer neuen Strenge der Nachkriegssachlichkeit gewichen. Bei Harasiewicz freilich, der am Freitag neunzig Jahre alt wird, ist jede Freiheit in Tempo und Taktmaß geboren aus der Einsicht in Chopins harmonische und formale Architektur. Sie definieren die Grammatik, durch welche das Herz erst sprachfähig wird.