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Karol Szymanowski in Bern : Wo aber Gefahr ist, wächst das Lockende auch

  • -Aktualisiert am

Spielfreudiges Ensemble als verführtes Volk mit Plakaten dumpfer Glücksversprechen. Bild: Annette Boutellier / Foto Ric Schachtebeck

Exzellent in jeder Hinsicht: Ludger Engels inszeniert in Bern Karol Szymanowskis „Król Roger“ als Heilsgeschichte, Coming-Out-Story und Verführungskarikatur

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          Angesichts aktueller Skandale um sexuellen Missbrauch Minderjähriger können Aufrufe zu tabufreiem Ausleben erotischer Präferenzen einen heiklen Beigeschmack entfalten. Vorsicht vor Projektionen ist allzu naiven Anhängern von derlei Heilsbotschaften ebenso anzuraten wie jenen, die dahinter Verharmlosung oder gar Befürwortung nur scheinbar einvernehmlicher, in Wirklichkeit auf Machtgefälle beruhender Sexualbeziehungen wittern. Sind etwa die Kontakte, die der Aktfotograf Wilhelm von Gloeden vor dem Ersten Weltkrieg in Taormina zu sizilianischen Knaben und Jünglingen pflegte, vergleichbar mit dem Treiben pädophiler Touristen, die heute in Ländern wie Thailand unter Ausnutzung dortiger Armut ihre libidinösen Bedürfnisse befriedigen? Oder handelte es sich damals nur um künstlerische Sublimierung ephebophiler Neigungen im Einverständnis mit den Porträtierten?

          Lange bevor Ende der Sechziger etwa im Rückgriff auf Theorien Wilhelm Reichs Forderungen nach sexueller Revolution die Gesellschaft bewegten (und später von Debatten um Fehlentwicklungen etwa an der Odenwaldschule eingeholt wurden), hat es in wilhelminischer Zeit Bestrebungen nach Überwindung prüder kirchlicher Leibfeindlichkeit durch Propagierung einer neuen Freikörperkultur gegeben. Auch die 1916 bis 1924 entstandene und 1926 in Warschau aus der Taufe gehobene Oper „Król Roger“ von Karol Szymanowski kreist um diese Thematik. Ihr Titelheld, der normannische König Roger II. von Sizilien, sucht zwischen asketischer Disziplin und dionysischer Verführung seine innere Freiheit. Am Berner Theater kam das Meisterwerk des 1882 in der polnischen Ukraine geborenen Komponisten jetzt 93 Jahre nach seiner Warschauer Uraufführung erstmals auf eine Schweizer Bühne.

          Qualvolle Selbstfindung

          Szymanowski hat das Libretto des polnischen Dichters Jarosław Iwaszkiewicz zu „Król Roger“ mitgestaltet und die Hauptfigur autobiographisch eingefärbt. Schon zuvor war er sich in Taormina seiner eigenen Homosexualität beim Anblick badender Knaben bewusst geworden. Auch die Schauplätze der Handlung (byzantinische Kirche im ersten, königlicher Palast im zweiten, Ruine eines griechischen Amphitheaters im dritten Akt) sind von diesem Aufenthalt inspiriert. König Roger zögert lange, ob er einen Hirten, der an seinem Hof die Freiheit der Liebe predigt, auf Betreiben des Erzbischofs hinrichten oder auf Wunsch seiner Frau Roksana gewähren lassen soll. Nach einem quälenden, vom arabischen Berater Edrisi einfühlsam unterstützten Selbstfindungsprozess bleibt er am Ende allein zurück und stimmt einen apollinischen Sonnenhymnus an.

          Der Regisseur Ludger Engels hat in Bern nicht nur den Text, sondern unmittelbar auch Szymanowskis bedeutsame Musik szenisch umgesetzt. Auf Ric Schachtebecks Bühne ist neben dem von Zsolt Czetner exzellent vorbereiteten Chor und dem Kinderchor der Singschule Köniz auch das Orchester untergebracht. Für die Sänger bleibt so gerade genug Platz, um das Stück als subtiles Kammerspiel zu entfalten. Die quasi konzertante Darbietung der orthodoxen Messe, die Young Kwon als Erzbischof bassmächtig anführt, gerät zum zeremoniellen Theater, wobei die archaischen Klänge der Partitur einen evangelikalen Gottesdienst amerikanischer Prägung begleiten. Die Kostümbildnerin Heide Kastler hat den Damen hochgeschlossene Blusen und altmodische Faltenröcke, den Herren Business-Anzüge verordnet.

          Auf der aseptisch weißen, karg ausgestatteten Vorderbühne setzen die Protagonisten dem rituellen Geschehen bei ihren Dialogen filmrealistische Gesten entgegen. Die Personenführung ist minutiös auf den musikalischen Verlauf abgestimmt. Eine Live-Kamera überträgt ab und zu Nahaufnahmen der Gesichter auf zwei große Bildschirme und lässt sie immer wieder zu Stills erstarren. Mariusz Godlewski gibt der seelischen Gespaltenheit Rogers vokal bewegend Ausdruck. Andries Cloete, anfangs als lässiger Hirte mit Hippie-Mähne und Jeans, später als tänzerisch agiler Gott Dionysos in gelben Stöckelschuhen, verkündet seinen neuen Kult mit sirupsüßem Tenor und streicht dabei auch mal übergriffig einem Kind durchs Haar. Sinnlich warm tönt Evgenia Grekova als Roksana, die sich nicht nur für die mysteriöse Poesie dieses Verführers anfällig zeigt.

          Nazariy Sadivskyy spielt Edrisi als diskreten Strippenzieher, insgeheim seinem König homoerotisch zugeneigt und auf dessen Coming-out erpicht. Behutsam dosiert er seinen tenoral betörenden Rat. Das kann auch Sarah Mehnert mit ihrem gestreng intervenierenden Diakonissen-Alt nicht unterbinden. Matthew Toogood entfaltet mit dem klangschön musizierenden Orchester über drei großartig gesteigerte Akte hinweg ein rauschhaftes Bad in spätromantisch-impressionistischen Klängen. Anders als in Hans Werner Henzes „Bassariden“ wird die Gefahr rattenfängerischer Parolen bei Szymanowski nicht thematisiert. Engels erlaubt sich aber eine Karikatur von Glücksversprechen, indem er das verführte Volk mit Plakaten und Schildern für Klischees wie „Love and Peace“, „Free Hugs“ oder „Be yourself“ demonstrieren lässt. Frauen geraten in hüftschwingende Bewegung, öffnen Haare und Blusenknöpfe, Männer lassen ihre Krawatten fliegen und entern das Publikum. Blauäugige Befreiungseuphorie soll auch Parkett und Ränge erfassen.

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