Jürgen Flimm gestorben : Meister aller Klassen
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Jürgen Flimm (1941-2023). Bild: Jens Gyarmaty
Mit Herz und Mund und Tat und Leben: Der Regisseur und Intendant Jürgen Flimm ist im Alter von 81 Jahren gestorben.
In einem Dramolett in einem seiner Bücher stilisierte sich der Regisseur Jürgen Flimm zum lustvollen Schmerzensmann, der eine umgedrehte Pyramide auf der blanken Stirn balanciert. Diese ist voller „Menschen, Einfälle, Ideen, Klatsch, Tratsch, Missgunst, Gestank, Zorn, Wut, Trauer, auch Applaus“, eben voll der widersprüchlichen Einflüsse und Ereignisse, die im Lauf einer Inszenierung zusammenkommen können. Das artistische Manöver ist zwar schwierig und tut bisweilen weh („Ich habe manchmal schreckliche Kopfschmerzen“), schien für Jürgen Flimm jedoch trotzdem das reine Glück zu sein.
Er genoss es – mit seinem Publikum - im Schauspiel wie in der Oper, als Regisseur, Darsteller, Intendant, souverän mit dem schönen Humor, für den er bekannt war, und seiner unverwüstlich guten Laune: Der Harmoniefreund Jürgen Flimm setzte stets mehr auf Konsens als auf Konfrontation und auf menschenfreundliche Pädagogik statt auf ideologische Dogmatik.
Geboren wurde er 1941 in Gießen, aufgewachsen ist er in Köln, wo er Soziologie, Theater- und Literaturwissenschaft studierte und sich überdies zu der rheinischen Frohnatur ausbildete, die es ihm erlaubte, nicht wenige berufliche Schleudersitze und deren amtliche Verwalter sowie das Treibhausklima diverser Häuser mit gelassener Heiterkeit und Sportsgeist zu bewältigen. Er liebäugelte schon als Student mit dem Theater und sammelte erste Erfahrungen auf einer winzigen Kölner Kellerbühne.
Gelassene Heiterkeit und Sportsgeist
Angeschlossen war eine kleine Schauspielschule, wo er seine Schauspielprüfung bestand, „der einzige Beruf, den ich bis heute regelrecht nachweisen kann“. 1968 wurde er Regieassistent an den Münchner Kammerspielen, inszenierte in Mannheim, Hamburg, Köln, sogar in New York. In den damals in jeder Hinsicht sehr bewegten Jahren waren seine Inszenierungen nie eindimensional politisch, sondern meist kunstvoll dramaturgisch und oft poetisch-phantasievoll angelegt. „Ich war immer an der Innensicht der Texte interessiert“, sagte er in einem Interview zu seinem 80. Geburtstag dem NDR: „Was kann man aus den Texten herausholen, wie kann man die Zuschauer mitnehmen auf so einer Reise?“
1979 wurde Jürgen Flimm Intendant in Köln und leitete von 1985 bis 2000 das Thalia Theater Hamburg. Dem bescherte er sensationell hohe Auslastungen und etablierte es durch einen intelligenten Spielplan und ein großartiges Ensemble als intellektuelles Zentrum der Stadt.
Mit der deutschen Erstaufführung von Luigi Nonos „Al gran sole carico d’amore“ in Frankfurt am Main hate er sich 1978 erstmals an eine Oper gewagt – und gleich an ein Schlüsselwerk des zeitgenössischen Musiktheaters. Er reüssierte auch in diesem Genre, arbeitete über die Jahre mit Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt oder Daniel Barenboim zusammen, brachte 2000, zusammen mit Guiseppe Sinopoli, Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ bei den Bayreuther Festspielen heraus.
Keine Angst vor der Oper
Von 2001 bis 2005 war er Schauspieldirektor und ab 2006 Intendant der Salzburger Festspiele, parallel dazu von 2005 bis 2008 Intendant der Ruhrtriennale. Zum Inszenieren kam der praktizierende Italien-Freund da kaum noch, öffnete nun lieber anderen die Türen. Sein Wissen und seine Auffassung vom Beruf des Regisseurs gab er als Hochschullehrer an der Harvard University, der New York University und an der Universität Hamburg weiter, blieb seinen Schülern wie Falk Richter oder Nicolas Stemann stets gewogen.
Ein Kulturmanager oder Kulturfunktionär ist er trotz seiner administrativen Verpflichtungen zum Glück nie geworden, ein hoch kompetenter, bestens vernetzter, alles gebender Liebhaber der schönen Künste freilich immer geblieben, was man auch daran sah, mit welchem Elan er sich seit 2010 seinem Amt als Intendant der Berliner Staatsoper widmete.
Umsichtig und charmant hat Jürgen Flimm die schwierige Renovierungsphase moderiert, in der sich die Bauzeit wie das Budget verdoppelten, wofür er allerdings nichts konnte. Die Eröffnung 2017 hat er noch begleitet und sich dann zurückgezogen. Danach hat er frei inszeniert, ob an der Scala oder in Braunschweig, und seine Autobiographie geschrieben, die im Titel den Titel einer berühmten Kantate von Johann Sebastian Bach aufnimmt: „Mit Herz und Mund und Tat und Leben“. Das Buch wurde von Kiepenheuer & Witsch ursprünglich für 2025 angekündigt und soll nun am 2. November erscheinen.
Er hat nicht wenige Krankheiten, darunter Herzprobleme und diverse Unfälle, tapfer überstanden. Nun war selbst seine Kraft aufgebraucht, und am Samstag, dem 4. Februar, ist dieser vielgeliebte Musensohn im Alter von 81 Jahren verstorben.