„Hippolyte et Aricie“ : Es waren zwei Königskinder, ganz vaterseelenallein
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Im zweiten Akt steigt der Schmerzensmann Thésée hinab in die von Franck Evin düster beleuchtete Unterwelt, um Perithous zu befreien. Der geschmeidig deklamierende Bariton Edwin Crossley-Mercier muss dort auf Tänzerhänden ein gefährliches Crowdsurfing absolvieren. Gespenstisch maskierte Rabenvögel mit Schnäbeln, Krallen und schwarzer Rokoko-Kleidung führen ein von Kinsun Chan bizarr choreographiertes Gruselballett auf, in dessen Verlauf Perithous’ geschundener Körper vom athletischen Davidson Hegglin Farias vorübergehend großartig wiederbelebt wird. Auch später bietet Mijnssens subtile Inszenierung spektakuläre Bilder.
Vokale Glanzpunkte
Nach seinem Höllentrip findet Thésée zu Hause tatsächlich jene Hölle vor, die ihm im Hades prophezeit wurde. Obwohl ihm die Hinrichtung seines Sohnes das Herz zerreißt, wahrt er beim Staatsakt die Etikette. Um so verzweifelter sitzt er hinterher an der Rückwand seines Palasts. Phèdre, von Reue gepackt, schneidet sich vor ihm die Adern auf. Erst widerstrebend, dann verzeihend nimmt er sie in den Arm. Im Sterben gesteht sie ihm, was wirklich passiert ist. Mit niederschmetternder Wucht trifft ihn ihr Verlust und die gleichzeitige Erkenntnis, dass er seinen unschuldigen Sohn geopfert hat. In ihrer gesangslosen Ruhe gerät diese nur instrumental begleitete Szene zur ergreifenden Pietà.
Mélissa Petit leiht Aricie ihren besonders im tiefen Register volltönenden Sopran. Als resolute Rivalin Phèdre steigert sich Stéphanie d’Oustrac mit heroinenhaftem Mezzosopran in exaltierte Wut hinein. Cyrille Dubois gibt Hippolytes Trauer einen kräftig tenoralen Ausdruck. Auch Hamida Kristoffersen als bebrillte Rokoko-Oma Diane, Wenwei Zhang als begütigender Neptun, Aurélia Legay als intrigante Oenone und der von Janko Kastelic einstudierte Chor setzen vokale Glanzpunkte.
Die französischen Dirigentin Emmanuelle Haïm animiert das hochgefahrene Orchestra La Scintilla mit energischen Gesten zu kräftigem Klang. Genüsslich werden Dissonanzen ausgekostet. Der Trauerflor der Flöten begleitet Chöre, die in ihrem lapidaren Ernst bereits an Gluck gemahnen. Die rhythmisch originellen, quasi erotisch aufgeladenen Tänze entfalten ihren ganzen Schwung. Rameaus feinsinnige Partitur erstrahlt in all ihrem Farbenreichtum, ihren kühnen Harmoniefolgen und delikaten metrischen Verzögerungen.
Im letzten Akt muss Aricie noch einmal jene traumatische Einkleidung über sich ergehen lassen, die sie zu Beginn an Dianas Orden ketten sollte. Als dann ihr Märchenprinz im Ornat erscheint, erlebt sie einen kurzen glücklichen Augenblick, doch dann lässt Hippolyt sie stehen und schreitet auf den Thron zu. Aricie begreift und weint bitterlich. Nichts mit Flitterwochen! Repräsentationspflichten rufen. Am Ende schauen die zueinander gekommenen Königskinder vaterseelenallein ins Leere. Nachdem Rameaus spezifisch französische Art des Musiktheaters es lange schwer hatte, im deutschen Sprachraum ein Publikum zu finden, ist diese Inszenierung, neben Barrie Koskys „Castor et Pollux“ in Berlin und Rolando Villazóns „Platée“ in Dresden, ein weiteres starkes Zeichen dafür, dass Rameaus Stern steigt.