Jazz-Posaunist Günter Christma : Was ihr so freies Palaver nennt
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Im Kern der Neutöner: Jazz-Posaunist Günter Christmann Bild: Hans Kumpf
Er gehörte zu den Free-Jazzern der ersten Stunde, trat mit Pina Bausch auf und spielte auf Wuppertaler Hausdächern: Jetzt wird der Jazz-Posaunist Günter Christmann 80.
Das rechte Maß haben Free-Jazz-Musiker nie gefunden. Musikalisch tendierten sie zur Übertreibung, verbal zum Understatement. Ihr ästhetisches Ziel war die akustische Totale. Aber wenn sie improvisierten, nannten sie es schlicht „frei spielen“, und kontrapunktisch aufeinander reagieren hieß bei ihnen „wir palavern“. Nur der Klangsprache sollte man vertrauen, vorurteilsfrei und ohne das Chinesische des Fachs. Recht hatten sie, obwohl das Zuhören dann oft mühsam wurde. Alles konnte spielerisch akzeptiert werden, aber nicht alles war musikalisch brauchbar. Immerhin wusste man das hinterher. Wer als Künstler und als Hörer die lange Phase der Klangfindung im Dickicht des Free-Jazz-Gewusels überstanden hatte, war auf alle Fälle klüger.
Der Posaunist Günter Christmann gehört zu jenen Freigeistern, die schließlich immer mehr die Spreu des bloßen Getöses vom Weizen des aufregend neuen Musikklangs trennten. Als Free-Jazzer der ersten Stunde in Deutschland gehörte er dem Wuppertaler und dem Berliner Kreis um Peter Brötzmann und Alexander von Schlippenbach an, veröffentlichte seine ersten Aufnahmen bei der Free Music Production (FMP), spielte lange Jahre im Globe Unity Orchestra (im Posaunentrio mit Albert Mangelsdorff und Paul Rutherford) und trat bei diversen Total Music Meetings auf. Tiefer eindringen in den Nukleus der Neutöner im Jazz konnte man kaum.
Auftritte mit Pina Bausch
Seine Einspielungen mit dem Klarinettisten, Saxophonisten und Akkordeonspieler Rüdiger Carl, im Duo mit dem Schlagzeuger Detlef Schönenberg und im Quintett des Bassisten Peter Kowald bei FMP gehören zu den Free-Jazz-Meilensteinen der frühen Siebzigerjahre. Die Auftritte mit der Tänzerin Pina Bausch in der Akademie der Künste in Berlin und die späteren choreographisch-musikalischen Arbeiten mit Elizabeth Clark und Regina Baumgart waren charakteristische künstlerische Grenzüberschreitungen jener Jahre. Man konnte Günter Christmann als improvisierenden Individualisten auch bei den auf Peter Kowald zurückgehenden „Jahrmarktsmusiken“ erleben, wo er mit Paul Rutherford – wie mittelalterliche Turmbläser auf Wuppertaler Hausdächern stehend – Alphorn spielte. Zu den bemerkenswertesten Kompositionen aus dieser Zeit gehören seine Solomusiken für Posaune und Kontrabass.
Erste Anregungen hatte Günter Christmann von Traditionalisten des New-Orleans-Jazz wie Kid Ory und George Lewis erhalten, lernte Banjo, Bass und Violoncello, bevor er zur Posaune fand und sich mit neuem Jazz von John Coltrane und Ornette Coleman auseinandersetzte. Nach den langen Free-Jazz-Erkundungen befasste er sich seit den frühen Neunzigerjahren vor allem mit Mixed-Media-Projekten zwischen Instrumentalimprovisation, musique concrète, Film und Lichtinstallation, gehörte zum legendären King Übü Örchestrü von Wolfgang Fuchs und gründete das Improvisationsensemble Vario aus Musikern, Tänzern, Schauspielern und Akrobaten.
In den langen Jahren seiner musikalischen Aktivität hat Günter Christmann als nimmermüder Experimentator eine ausgefeilte Posaunentechnik entwickelt, zu der Zirkularatmung, Multiphonics, das Spielen mit unterschiedlichen Rohrblattmundstücken, Dämpfern und außergewöhnlichen Klangmaterialien gehört. An diesem Dienstag feiert er seinen achtzigsten Geburtstag.