Kritik an Ballettschulen : Gnadenlosigkeit macht Tanzen nicht zur Kunst
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Mit spätestens neun Jahren wird es ernst: Ballettschülerinnen vor dem Auftritt Bild: AFP
Herabsetzender Umgang, Mobbing und ein Klima der Angst: Die Kritik an Ballettschulen nimmt zu. Fehlt es in der Tanzausbildung an zeitgemäßen pädagogischen Methoden?
Die Ausbildung zum professionellen Ballett sei gnadenlos und müsse es sein, wenn die Auszubildenden international eine Chance haben sollen. Das schrieb soeben der Komponist und Dirigent Mathias Husmann in einem Leserbrief an die „Berliner Zeitung“. Gleiches gelte für Instrumentalsolisten, Opernsänger und alle Berufe mit akrobatischen Anforderungen. Husmann nimmt damit Stellung zur Suspendierung des Schulleiters sowie des ehemaligen Künstlerischen Leiters der Staatlichen Ballettschule Berlin und Chefs des dortigen Landesjugendballetts. Sie waren vergangene Woche einstweilig freigestellt worden, weil der Berliner Senat es anders nicht für möglich hielt, die Vorwürfe gegen die Ballettschule wegen Fehlverhaltens gegenüber ihren Schülern aufzuklären.
Zu diesen Vorwürfen, die ähnlich zuvor auch an der Balletschule der Wiener Staatsoper laut geworden waren, deren Direktion inzwischen abgelöst wurde, gehören ein herabsetzender Umgang mit den Schülern, hämische Bemerkungen über ihre Körper – zu groß, nicht mager genug –, ein Klima, in dem aus Angst trotz Verletzungen weitergetanzt wurde, Mobbing und in der Folge Essstörungen bis hin zur Bulimie. Noch ist in Berlin ungeklärt, in welchem Ausmaß derartiges vorgekommen ist. Doch der Leserbrief des Komponisten, der ausdrücklich der suspendierten Schuldirektion beispringt, berührt das zugrundeliegende Problem.
Die Tanzwelt ist ständig im Wandel begriffen. Seit der Eiserne Vorhang vor dreißig Jahren fiel, sind es nicht nur Gastspiele, durch die unterschiedliche Tanzkulturen aufeinandertreffen. Es sind mehr als nur einzelne Stars, die von Moskau nach New York wechseln. Auch Ballettmeister und Lehrer aus Osteuropa suchen seither verstärkt Arbeit im Westen. Die Generationen von Rudolf Nureyev und Mikhail Baryshnikov sind in Ballettinternaten in Russland groß geworden, haben in Stockbetten in Schlafsälen geschlafen und Kohlsuppe gegessen. Pilates oder Ernährungslehre waren Fremdwörter. Wer sich am Nachmittag auf dem Schulhof nicht so benahm, wie es die Regeln vorsahen, musste am nächsten Morgen zwanzig Minuten im Handstand stehen.
Nur angepasste Talente werden gefördert
In China und Russland gibt es noch immer unzählige Talente, die Tänzer, Artist oder Spitzensportler werden möchten, weshalb im Auswahlprozess nicht viel Federlesens gemacht wird. Für jedes Talent, das nicht ganz ins Schema passt – zu dick, zu klein, zu aufmüpfig –, kann ein anderes, besser an das Schema angepasstes Kind nachrücken.
Das technische Können so weit steigern zu wollen, wie es geht, ist der Ehrgeiz von Schulen, die international um Anerkennung kämpfen. Wie man auf Instagram, Youtube und live auf der Bühne sehen kann, ist es auch individueller Ehrgeiz von Tänzern, die Grenzen des für körperlich machbar Gehaltenen auszudehnen. Spagatsprünge über einhundertachtzig Grad, bei denen die Füße höher fliegen als das Becken, sind nicht mehr selten. Trainiert wird diese Überdehnung etwa, indem die Füße auf zwei Stühlen ruhen und der Körper dazwischen in der Luft hängt.
Das ist unästhetisch und abstoßend, ein Exzess, aber leider keine Seltenheit. Ohne Härte geht es andererseits in der Tanzausbildung tatsächlich nicht. Die Diskussion über Spitzensport kennt inzwischen das Argument, man müsse mit weniger spektakulären Ergebnissen rechnen und Verzicht auf bestimmte Rekorde hinnehmen, wenn man das Doping wirklich abschaffen will. Die vielleicht denkbare Analogie, Tänzer weniger athletisch auszubilden und dafür Abstriche bei den künstlerisch-technischen Möglichkeiten der Choreographie in Kauf zu nehmen, ist nicht wirklich eine. Denn die technischen Schwierigkeiten – Schönheiten! – der Werke des Repertoires des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts sowie der Gegenwart sind eben keine Zirkustricks oder olympischen Rekorde, sondern Ausdruck künstlerischer Absichten, sie sind die Aussage eines Stücks.