Bedrohte Kunstform : Der unsichtbare Tänzer
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Die Tänzerin Anouk van der Wejide hält sich in Corona-Zeiten auf einem Stuttgarter Balkon in Form. Bild: dpa
Ballett ist das Gegenteil von Abstand: Zur prekären Lage einer Kunstform.
Vor Spielzeitende stehen in den Kalendern von Tanzcompagnien und Ballettensembles wichtige Termine. Ausscheidende Solisten geben ihre Abschiedsvorstellungen, Vortanztermine für die nächste Saison werden angesetzt. Große Premieren finden auch oft kurz vor Spielzeitferienbeginn statt, denn nach einigen Aufführungen vor der Sommerpause sitzt das Stück sehr gut. Aber längst nicht alle Zuschauer haben es sehen können, und somit bildet es einen guten Auftakt für die neue Saison. Entweder so – oder es finden intensive Proben für ein neues Ballett statt, so dass kurz nach Beginn der neuen Spielzeit bereits die erste Premiere gegeben werden kann.
Der Ausklang von 2019/2020 sieht dramatisch anders aus. Fast alles fällt aus. Die meisten Proben für neue Produktionen sind verschoben. Alle warten, auf den Herbst und den Beginn der neuen Spielzeit, auf den Impfstoff, auf Medikamente, auf weltweite Gesundung. Viele Tänzer und Tanzstudenten sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Das deutsche Stadttheater, und das gilt insbesondere für Oper und Tanz, ist eine internationale Angelegenheit. Nicht selten tanzen in einem Ensemble wie Mainz oder Cottbus mehr als zwanzig Nationalitäten zusammen. Für die freien Regisseure und Choreographen, deren Inszenierungen häufig als Koproduktionen verschiedener Festivals und Theater in mehreren Ländern entstehen, ist die Lage noch ernster.
Ballettstangen und Spitzenschuhe
An den Stadttheatern fließt immerhin weiter das Gehalt aus den Verträgen, aber verschobene freie Produktionen bedeuten auch aufgeschobene Zahlungen. Es bedeutet, zur Schreibtischarbeit, zur Einsamkeit verurteilt zu sein, während eigentlich Proben stattfinden sollten. Der belgische Regisseur und Choreograph Michael Laub („Rolling“), der in diesem Semester die „Valeska-Gert-Gastprofessur“ an der Freien Universität Berlin innehat, hält zwar seine Vorlesung als Videokonferenz ab. Proben kann auch er nicht. „Manchmal wäre ich derzeit gern ein Maler oder Schriftsteller“, sagt er. Damit er die Arbeit an seiner neuen Inszenierung beginnen könnte, müssten vier Kontinente ihre Reisebeschränkungen beenden. Tänzerinnen aus New York und Australien würden sich mit den europäischen Darstellern in Moçambique treffen. „Meine Arbeit ist sehr vom Kino beeinflusst. Im Augenblick verfolgt mich dieses Bild – die Vorstellung, wie die Kameras weltweit stillstehen. Noch nie seit der Erfindung des Films sind sämtliche Dreharbeiten zum Erliegen gekommen.“
Als sich abzeichnete, dass der Lockdown nicht nach drei Wochen aufgehoben werden würde, haben Tanzstudenten und professionelle Tänzer in ihren Wohnzimmern, Küchen und Fluren vier Quadratmeter Tanzteppich ausgelegt. Man hat ihnen transportable Ballettstangen nach Hause gebracht und neue Spitzenschuhe zugeschickt, wenn es nötig war. Wo das Aufstellen der Barre nicht möglich war, lernten wir – als ihre Verfolger auf Instagram, Facebook, Zoom und anderem – die Treppengeländer im oberen Stockwerk und die Küchentheken kennen, denn natürlich kann man sich an vielerlei festhalten, um das Exercice an der Stange zu absolvieren.
Es war lustig, es war traurig
Festhalten soll man sich schließlich sowieso nicht, sondern nur die Hand auflegen. Es waren viele von ihnen, die solche Trainings geteilt und live gestreamt haben. Auf dem Sofa zu sitzen und Gummibärchen zu essen, scheint für die vielleicht diszipliniertesten Körper der Kunst- und Theaterwelt keine Option. Es war eine schöne, lustige Erfahrung in den letzten Monaten, mitunter auch eine traurige. Die großartigen Gaga People des israelischen Choreographen Ohad Naharin luden zu Online-Klassen ein, die alle in diese besondere, wilde, gemeinschaftlich idiosynkratische und mitreißende Form des Tanzens einführten. Tänzerinnen, die noch zu Lebzeiten des Choreographen Mitglieder der „Merce Cunningham Dance Company“ waren, studierten mit uns zu Hause ein Solo des 2009 verstorbenen Theaterrevolutionärs ein, Phrase für Phrase, in mehreren Lektionen. Jennifer Goggans, die viele Warm-up-Classes gibt, sagt mit einem stoischen Lächeln zu Beginn: „Let’s start doing what we do best – dancing!“