Theaterpremiere in München : In der Hoffnung, dass andere dich sehen
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Gegen die eigene Traurigkeit hilft nur die Traurigkeit der anderen: Evelyne Gugolz Bild: Birgit Hupfeld
Ein ungewöhnlich mutiger Text, ein Abend auf Augenhöhe: Im Münchner Marstall wird das empfindungsstarke Theaterstück „Archiv der Tränen“ von Magdalena Schrefel uraufgeführt.
Zwei Kinderschuhe am Straßenrand. Daneben ein Schild aus Pappe: „For sale: baby shoes, never worn“ – „zu verkaufen: Babyschuhe, nie getragen“. Vielleicht ist die Mutter des Totgeborenen längst nach Hause gegangen. Vielleicht schaut sie von der anderen Straßenseite ängstlich herüber, beobachtet, wer sich hinunterbeugt, wer den Schritt beschleunigt, wer innehält. Vielleicht weint sie. Vielleicht hat sie längst keine Tränen mehr.
Nur sechs Worte lang ist die Geschichte. Zugeschrieben wird sie Ernest Hemingway, der während eines Mittagessens im New Yorker Algonquin-Hotel mit Freunden eine Wette darüber abschloss, ob er eine Erzählung in sechs Wörtern erfinden könne. Die Serviette, auf die er seine knappe Kurzfiktion angeblich schrieb, ist nicht erhalten. Überliefert ist das kurze Ganze nur als literarische Anekdote, als Beweisstück dafür, wie ein paar richtig aneinandergereihte Buchstaben eine empfindungsstarke Wirkung erzielen können.
Die erste Träne ist erhalten
Wie viele Tränen haben diese sechs Worte wohl schon bewirkt? Wer kann sich noch an die erste erinnern? Die der Mutter. Niemand weiß mehr genau, wann sie lebte, hinter welcher Tür sie weinte. Aber ihre erste Träne hat sich erhalten, ist aufbewahrt im „Archiv der Tränen“. Eine geheimnisvolle Institution ist das, mit sehr „unregelmäßigen Öffnungszeiten“. Man kann hier vorbeikommen und seine Tränen abgeben. Mit einer kleinen Pipette saugt sie der beflissene Archivmitarbeiter von der Wange. Man kann aber auch anrufen, sechsmal hintereinander: Dann suchen sie einem das gewünschte Tränenfiche heraus und lassen die Geschichte dahinter erzählen. Zum Beispiel von einer, die abends in der Fensterscheibe ihr Spiegelbild sieht und dabei von einem tieftraurigen Gedanken überfallen wird: „Wäre ich heute Morgen nicht aufgestanden, es wäre auch keinem aufgefallen.“ Das steckt hinter der Träne, die fein säuberlich mit einer Ordnungsnummer versehen in dem Archiv eingelagert ist.
Unbedingtheit des Gefühls
Fiume heißt der neue Mitarbeiter. Wie der berühmte Freistaat, den der italienische Dichter Gabriele D’Annunzio 1919 zusammen mit seinen Freischärlern besetzte. Fünfzehn Monate lang wurde hier nach dem Ideal freier Entfaltung gelebt, geliebt und wahrscheinlich auch geweint. Fiume, das steht hier als Chiffre für die Unbedingtheit des Gefühls. Und so sucht Pujan Sadri als professioneller Sammler von Traurigkeiten immerfort nach neuem Material. Schon am schleppenden Gang des Paketboten erkennt er, dass der etwas für ihn haben könnte. Und wirklich: Im Spiegelkabinett drückt er eine Träne hervor, weil ihn das Innere seiner Pakete immer enttäuscht: „Mich macht es traurig, weil man ja doch nur Schicht um Schicht der Verpackung abwickelt, um dann festzustellen, dass der Inhalt nicht mithalten kann. Niemals.“
Geglückt, eingefangen – eine echte Träne, sozusagen in flagranti erwischt. Das ist ein Glücksfall. Denn in den meisten Fällen kommen die Tränen hier im Archiv nur in ihrer Übertragung an, in Taschentüchern, auf Papier, in Worte gefasst. In einem Brief, einem Bericht, in einer Beichte oder auch in einer Sprachnachricht. Es gibt trockene und unerlöste Tränen, solche, die im Bart hängen bleiben, und solche, die die Stimme ersticken. In schier unendlichen Ausprägungen wird Traurigkeit hier archiviert. Nur eine kennt das Ordnungssystem wirklich: Pia Händler gibt die Chefarchivarin als Conférencier mit Fliege und gelben Handschuhen, etwas mokant, mit leicht verzogenen Mundwinkeln, so als ob sie das eifrige Glücksstreben der Menschen nicht ganz ernst nehmen könne – im Angesicht all der gesammelten Traurigkeit.