Hänsel und Gretel in Köln : Schöne Bescherung für Abonnenten aller Altersklassen
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Drama der unschuldigen Phantasie: „Hänsel und Gretel“ in Köln Bild: Pual Leclaire
Nach dem Urteil des Generalmusikdirektors ist es die bestkomponierte Oper aller Zeiten: Humperdincks „Hänsel und Gretel“ in Köln.
Der Saal 2 im Deutzer Staatenhaus, der ehemaligen Messehalle, die der Oper Köln als Interimsquartier dient, hat keinen Orchestergraben. Gelegentlich hat man hier mit seitlichen Platzierungen der Orchestermusiker experimentiert, aber in der Neuinszenierung von Engelbert Humperdincks Märchenspiel „Hänsel und Gretel“ bildet das für dieses Stück erforderliche sehr große romantische Orchester einen schwarzen Block zwischen Bühne und Publikum. Man könnte vermuten, dass diese optische Barriere dem besonders jungen Publikum, das mit der Stückauswahl besonders angesprochen werden soll, die Sache unnötig schwer macht. Aber die Kinder bekommen auch in dem Teil des Theaterraums, der scheinbar nicht kindgerecht zugeschnitten werden kann, etwas Lehrreiches zu sehen. Damit so etwas Erstaunliches wie eine Oper über die Bühne geht, müssen auch sehr viele Leute mitmachen, die ihre Arbeit unsichtbar verrichten beziehungsweise es nicht darauf anlegen, die Augen der Zuschauer auf sich zu ziehen.
Nicht vorbeisehen kann man an dem Mann, der in der Mitte der Musiker steht und ins Bild ragt, als würden sie ihn auf ihren Schultern tragen. Sein Kopf glänzt, denn er hat nur noch wenige Haare. Der schwarz gekleidete Mann bewegt sich nicht weniger lebhaft als die Personen auf der Bühne, aber anders. Sie spielen etwas, haben etwas einstudiert und führen es vor. Im ersten Aufzug zum Beispiel behandeln Hänsel und Gretel die Reisigbesen, die man heute nur noch aus dem Märchenbuch kennt, wie Luftgitarren. Die beiden erwachsenen Sängerinnen tun also so, als wären sie Jugendliche, die so tun, als würden sie Gitarre spielen. Der Dirigent hat es nicht auf ein Wiedererkennen seiner Posen angelegt. Er ist in diesem Märchen nicht der Erzähler. Seine Arme sind in ständigem Kreisen begriffen, ohne dass ein Muster zu erkennen wäre. Mal fährt er die eine Hand aus, mal die andere, dann lässt er sie wie Baggerschaufeln tief hinunterfahren, wie man unter dem Christbaum in einem Haufen zerknüllten Geschenkpapiers wühlt, weil dort noch ein Päckchen verborgen sein könnte, oder in einem Plätzchenteller auf der Suche nach der Marzipankartoffel unter den Pfeffernüssen.
Das Kölner Abonnementpublikum darf schon eine Woche vor Weihnachten Bescherung feiern. Generalmusikdirektor François-Xavier Roth kommt in seinem Opernhaus zwar nicht ganz so selten vorbei wie der Weihnachtsmann, aber sein Vertrag schreibt ihm weniger Pflichtdirigate in der Oper vor als unter Kollegen in vergleichbaren Ämtern üblich. Nach der Premiere dirigiert Roth noch elf der sechzehn Repertoirevorstellungen des Stückes, das der Franzose im Radio als „die bestkomponierte Oper ever“ gerühmt hat. Dieser Superlativ darf verblüffen; er überbietet das von Eduard Hanslick in spöttischer Absicht an den Schluss seiner Rezension der Wiener Erstaufführung gesetzte Urteil von Siegfried Wagner, dem Sohn Richard Wagners, „Hänsel und Gretel“ sei die bedeutendste deutsche Oper in den zwölf Jahren seit dem „Parsifal“.
Man muss Roth beim Wort nehmen; mit Bedacht wird er das Werk nicht die beste Oper von allen genannt haben. Bestkomponiert: Das bezieht sich auf die Machart, die handwerkliche Seite, und wohl in erster Linie auf die Elemente der Technik, die Humperdinck von Richard Wagner übernahm, die Verbindung von Polyphonie und Leitmotivik, die Einbettung der Deklamation in eine unendliche Melodie. Hanslick rügte eine Diskrepanz zwischen dem Raffinement des technischen Aufwands im Detail und dem aus der Gattung des Märchens abzuleitenden Ideal einer innigen Gesamtwirkung. So ergibt der scheinbare Notbehelf der Aufstellung des Gürzenich-Orchesters eine Versuchsanordnung zur Überprüfung von Hanslicks Verdikt, der Widerspruch zwischen Stoff und Form werde offenkundig, „wenn ein überkünsteltes, pompöses Orchester die Scheltworte der Mutter illustriert“.
In Köln sind nicht nur, trotz der schwierigen Raumverhältnisse, die Stimmen der Sänger immer sehr gut zu hören, ohne strapaziert zu wirken. Das lebhaft bewegte Strömen, das Roth mit der Wühlarbeit seiner Hände hervorruft, legt auch einen Begriff von der Einheit eines Werkes der Gattung Märchenspiel nahe. Der kuriose Disput, der nach der Uraufführung über die Frage ausgetragen wurde, ob Humperdinck existierende Volkslieder wie den Märchenstoff verarbeitet oder alle Volksliedmelodien der Partitur erfunden hatte, wirft eine wirkungsästhetische Pointe ab: Man erfreut sich am Einfachen und erlebt es als zusammengesetzt. Psychologisch bedeutet das: Eine Märchenhandlung setzt Gegensätze von Gefühlen voraus, die – das ist das Moment des Traums, die kindliche Hoffnung – nicht unbedingt als Konflikte ausgetragen werden müssen. Das Märchen hat zwei Titelhelden. Sie verkörpern den einfachsten polaren Gegensatz, aber werden nicht zu Antagonisten. Kathrin Zukowski und Anna Lucia Richter, die kürzlich den Wechsel ins Mezzofach vollzogen hat, bezaubern mit der Abwechslung von mädchenhafter und jungenhafter Klangfarbe.
Die Inszenierung von Béatrice Lachaussée fasst das Stück konsequent als Drama der unschuldigen Phantasie auf. Hänsel und Gretel sind Kinder arbeitsloser Schausteller. Ihre Schutzgeister im Wald sind Zeichentrickfiguren, die bei der Disney-Künstlerin Mary Blair abgezeichnet sein könnten. Vielleicht gibt es im totgesagten Freizeitpark ein Kino, in dem alte Trickfilme laufen. Das Hexenhaus ist Teil dieser zweidimensionalen Welt. Als die Hexe hinter der Ofenklappe verschwindet, werden unter den Projektionen der rotierenden rosa-weißen Torten braune, verrostete Armaturen sichtbar. Das ist keine Entzauberung, sondern zeigt, wie der Zauber gemacht wird.