Drama von Leonid Andrejew in Freiburg : Die Hinrichtung wird verschoben
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Wenn die Welt bedrohlich wird: Mara Widmann als Anna, Tochter des Astronomen (Mitte links), mit Marie Goyette als dessen Gattin (Mitte rechts). Bild: Laura Nickel
In der Katastrophe leben: Das Revolutionsdrama „Hinauf zu den Sternen“ von Leonid Andrejew kommt als deutsche Erstaufführung am Theater Freiburg heraus. Ein Schneesturm beschwört darin das politische Unwetter.
Der russische Schriftsteller Leonid Andrejew (1871 bis 1919) ist ein Geheimtipp, der zurzeit eine Renaissance erlebt. Andrejew, seinerzeit ein Protegé von Maxim Gorki, erlebte das Scheitern zweier Revolutionen in seinem Land, der von 1905 und der Februarrevolution 1917, und musste nach beiden ins Ausland fliehen. Seine Prosa und sein bekanntestes, während eines Umsturzversuches spielendes Drama „Hinauf zu den Sternen“ kennzeichnet eine originelle Mischung von psychologischem Realismus à la Tschechow mit grotesk-expressiver, aber auch symbolischer Bildlichkeit. Andrejew sei der Schriftsteller der multiplen Krisen, des gegenwärtigen Zusammenbruchs, sagt der Regisseur Nicolas Charaux der F.A.Z., daher sei das Andrejew-Stück „Vergangenheit“ am Pariser Odéon vorige Saison hymnisch bejubelt worden, und daher sei die deutsche Erstaufführung von „Hinauf zu den Sternen“ in Freiburg sein Wunschprojekt. Auch die Freiburger Slawistin Elisabeth Cheauré, die ihre vor dem Ukrainekrieg enge Kooperation mit russischen Institutionen umgestellt hat auf solche mit exilierten russischen Kriegsgegnern, hält den exilierten Kriegsgegner Andrejew für den Autor der Stunde. Als Vorbereitung auf die Premiere leitete Cheauré im Theater einen literarischen Salon zu Andrejews Schlüsseltext über den Kriegswahn, „Das rote Lachen“, von dem einige Passagen auch in den Dramentext eingearbeitet wurden.
Im Stück kontrastiert die abgehobene Welt eines emigrierten russischen Astronomen mit der seiner Kinder, die auf dem Erdboden des Gastlandes ein Unrechtsregime zu stürzen versuchen. Charaux verlegt das in ein mitteleuropäisches Land im Jahr 2080. Seine Bühnenbildnerin Pia Greven evoziert das Observatorium auf dem Berg durch den leeren Saal des Kleinen Hauses, wo eine Art radloser Waggon als Schalt- beziehungsweise Schutzraum dient. Dem Zustand der Entwurzelung entspricht Charaux’ episches Theater, das den Schneesturm der Eingangsszene, der auch den politischen Tumult vergegenwärtigt, vom Ensemble wie bei einem Hörspiel als suggestiven Geräuschchor intonieren lässt, mitsamt Wolfsgeheul und singender Säge.
Die Lichtgestalt tritt nie auf
Die Familie des Astronomen und seine Assistenten befinden sich auf einem isoliert-privilegierten Beobachterposten, von dem aus der Forscher Ternowski (allem Menschlichen entrückt: Michael Witte) ferne Galaxien ausspäht und auf seinen Lieblingssohn Nikolai wartet, der im Tal Revolution macht. Dieser Nikolai wird von seiner Mutter Inna (tapfer verhärmt: Marie Goyette) und dem kleinen Bruder als idealistischer, selbst- wie furchtloser Kämpfer angehimmelt, tritt aber nie auf. Stattdessen bringen seine Mitstreiter, die sich zum Observatorium durchschlagen, immer schlechtere Nachrichten.
Zum Krachen eines Schusses stürzen Ternowskis Tochter Anna (voll expressiver Energie: Mara Widmann) und der Arbeiterrevolutionär Treitsch (von athletischem Ernst: Martin Müller-Reisinger) auf die Bühne, beide grünlich-grau geschminkt, als seien sie durch Sümpfe gepirscht, und melden, der Aufstand sei gescheitert, die Todesopfer gingen in die Zehntausende. Anna ist obendrein verletzt, weshalb sie im zweiten Akt mit durch Klebebänder fixierter Beinschiene auftritt. Treitsch, der am längsten mit dem charismatischen Kolja zusammen gewesen war, berichtet, dieser sei angeschossen worden, habe das Bewusstsein verloren und stecke höchstwahrscheinlich in einem Gefängnis.
Es kommt dann noch zu einem lyrischen Atemholen, als die Braut von Nikolai, die stürmische Marussja (jugendlich burschikos: Charlotte Will), auf dem Berg eintrifft, nachdem sie, wie sie erzählt, Kolja im Gefängnis sehen und durch Drohungen mit der öffentlichen Meinung in Europa bei seinen Schergen erreichen konnte, dass seine geplante Hinrichtung verschoben wurde.
Marussja, die überzeugt ist, dass die Begeisterung ihres Verlobten für andere Menschen ihn schützen müsse, sammelt Geld, um ihn aus dem Gefängnis zu befreien. Das Ensemble ergeht sich in der von einem aufrollbaren Grasteppich dargestellten Natur, diskutiert: Für Sternforscher Ternowski sind die kosmischen Vorgänge das Maß der Dinge, was seine Tochter Anna, die es viel wichtiger findet, die gesellschaftlichen Zustände auf der Erde ins Lot zu bringen, nicht akzeptiert. Arbeiterführer Treitsch beschwört die Gestaltungskraft der fortschrittlichen Menschheit, der sodann alle in einem Reigentanz huldigen.
Ihre Angst macht die Figuren zu Zombies
Doch die Befreiung misslingt. Als Treitsch zum zweiten Mal zum Observatorium zurückkehrt, teilt er mit, dass das verabredete Treffen nicht stattfand, dass weitere Aufständische umgebracht wurden. Die Figuren flüchten sich in den Waggon, aus dem Livebilder an eine Videowand geworfen werden, mit den Brillen mit Spiralgläsern wirken sie wie Zombies. Zwei expressive Soli beschließen den pausenlosen, in der Mitte etwas ideenlosen Anderthalbstundenabend. Wills verzweifelte Marussja wird, sich einen Scheinwerfer vors Gesicht haltend, zur Furie, die eine kriegerische Rachestadt namens „Hinauf zu den Sternen“ gründen will. Und den Sterngucker Ternowski, der versucht, den Verlust seines Sohnes durch philosophische Spekulationen zu sublimieren, wirft in einer stummen Szene der Schmerz nieder. Dankbarer Applaus im voll besetzten Haus.