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Händel in Frankfurt : Zwischen den Grenzen der Geschlechter

Das Kleid, entworfen von Raphaela Rose, ist ein Traum, die Stimme von Kateryna Kasper als Angelica aber auch. Bild: Barbara Aumüller

Balzende Schäferinnen, verletzliche Soldaten, verwirrte Ritter, beherrschte Prinzessinnen: An der Oper Frankfurt inszeniert Ted Huffman Georg Friedrich Händels „Orlando“.

          3 Min.

          Es ist, sprechen wir es umstandslos aus, ein klingendes Fest weiblicher Balz und Lust: Monika Buczkowska als Schäferin Dorinda flötet und girrt mit ihrem bezaubernden Sopran wie ein liebestolles Nachtigallenhähnchen, und ihre Schweller – die in der Lautstärke langsam an­wachsenden, vor Sehnsucht bebenden Tonwiederholungen – suchen in der Nachahmung der Natur zugleich deren Überbietung. Die Imitationsästhetik, für die Georg Friedrich Händel zu Beginn des zweiten Aktes seiner Oper „Orlando“ ein betörendes Paradebeispiel gibt, ist ein altes Verfahren kultureller Aneignung: die Übertragung des Vogelgesangs auf eine menschliche Praxis der Partnerwerbung. Zugleich aber, und das ist Händels hübsche Finte, verschafft er einer Frau die Chance einer Werbetechnik, die biologisch im Tierreich dem männlichen Ge­schlecht vorbehalten ist.

          Jan Brachmann
          Redakteur im Feuilleton.

          Händel identifiziert in diesem Moment also gerade nicht das biologische mit dem kulturellen Geschlecht. Schon bei der Ur­aufführung seiner Oper am 27. Januar 1733 in London, also ziemlich genau vor 290 Jahren, sang eine Frau – Celeste Gismondi – die Partie der Dorinda und wurde zum Publikumsliebling. Und Raphaela Rose, die für die Neuinszenierung von Händels „Orlando“ an der Oper Frankfurt die ebenso prächtigen wie sprechenden Kostüme entworfen hat, begreift ganz genau, was Händel hier treibt: Sie kleidet Dorinda in ein Ringelshirt, wie es Matrosen zu tragen pflegten, und zieht ihr granitgrüne Hosen mit Hosenträgern drüber. Das Cross Dressing wird zur Spiegelung des Cross Singing. Dorinda eignet sich die Codes kultureller Männlichkeit an – und zwar schon bei Händel. Es wird nach dem Ende der barocken Oper lange dauern, bis Frauen auf der Bühne unbefangen vom eigenen Begehren singen und darin auch die Initiative ergreifen dürfen, ohne zu Huren, Hexen oder Wahnsinnigen erklärt zu werden. Hier hat die Verbürgerlichung von Kunst und Gesellschaft zur Einschränkung weib­licher Handlungsspielräume geführt.

          Ted Huffman, der 2019 in Kopenhagen mit „Il trionfo del tempo e del disinganno“ eine strenge, aber schlüssige Händel-Inszenierung herausgebracht hatte, be­kräftigt nun in Frankfurt seine Liebe zur Kargheit. Die von Johannes Schütz entworfene Bühne besteht nur aus einem Drehkreuz von gazebespannten Quadratrahmen, das von fünf Tänzern in Bewegung gehalten wird. Doch das zauberhafte Licht von Joachim Klein, die Videos von Georg Lendorff mit den Silhouetten von Oliven- oder Mistelzweigen und die Choreographie von Jenny Ogilvie beleben die Gazeflächen mit wechselnden Bildern: Eindrucksvoll sind die Schattenrisse von sich findenden und verlierenden Händen, wenn von Sehnsucht und Verlust gesungen wird, aber auch der bewegliche Scherenschnitt eines jungen Mannes mit spanischer Halskrause, wenn Orlando von seinem Gang zu den Schatten des To­tenreiches singt.

          Ritter Orlando liebt Prinzessin Ange­lica, Angelica liebt aber den Soldaten Me­doro, Medoro wird nur zugleich von Dorinda geliebt. Doch Zoroastro will be­weisen, dass die ganze Liebe ein Wahn sei und Orlando sein „Herz von wei­bischen Gefühlen“ reinigen solle. Seine Welt sei der Krieg. Händel freilich gönnt dem Mann die „weibischen Gefühle“ ebenso, wie er der Frau Lust und Balz gönnt. Und Huffman arbeitet heraus, dass mit dem Zulassen dieser „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ in Frauen und Männern die Probleme von Beziehung, Bindung und Trennung nicht einfach gelöst wären. Die bleiben am Ende dann doch emanzipationsresistent.

          Die Inszenierung lebt vom Licht und Farbenspiel (etwa zwischen dem lachs­roten Kleid für Angelica vor dem blassen Türkis der Gazewände), aber vor allem vom lockenden, kunstfertigen Gesang, der anfangs etwas affektgebremst wirkt, sich dann aber in der Anteilnahme steigert. Zanda Švēde als Orlando singt den Wahnsinn kaum als Explosion heraus, sondern als nach innen wirksame Verstörung. Die abgedunkelten, halb verschatteten Farben ihres Mezzosoprans erzählen etwas von der Tragik steter Selbstkontrolle, von der Angst vor dem Beherrschungsverlust. Zugleich erinnert der blaue Frack, den sie als Orlando trägt, an die empfindsame Zerrissenheit des jungen Werthers bei Goethe.

          Božidar Smiljanić erfreut als Zoroastro mit einem wendigen, in den Koloraturen herrlich leichtgängigen Bassbariton, eher hintergründig manipulativ als outriert boshaft. Christopher Lowry beweist in der einstigen Kastratenpartie des Medoro mit seinem lyrischen, eher verletzlichen als wehrhaften Countertenor einmal mehr, wie vielfältig die vokalen Physio­gnomien des Männlichen bei Händel sein können. Kateryna Kasper nun, durch ihr Balltraumkleid als traditionell weiblich kostümiert, bietet in Gestalt der Angelica vokal alle Nuancen der Zu- und Abneigung, des doppelbödigen Verhaltens, et­wa der hoheitlichen Selbstbehauptung im Kaschieren von Angst auf – mit großer Kehlfertigkeit in den Koloraturen und mit einem Timbre, durch dessen Süße die In­tensität der Leidenschaft dringt wie das Salz durchs Karamell.

          Unter der Leitung von Simone Di Felice spielt das Frankfurter Opern- und Museumsorchester in einer Aufführungspraxis, die historische Informiertheit nicht mit klanglichem Sadomasochismus verwechselt. Hier wird nicht gekratzt, ge­peitscht, gefaucht. Hier verrät zuweilen das leichte Crescendo auf Tonwieder­holungen der Streicher im Legato, dass Musik nicht nur klingender Sprechakt, sondern auch Sprache des Herzens sein kann.

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