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Vermeer-Oper in Zürich : Für dreißig Gulden verkauft

  • -Aktualisiert am

Vermeer (Thomas Hampson) und Griet (Lauren Snouffer) Bild: Toni Suter

Im Schutzraum der Kunst: Am Opernhaus Zürich gelangt die Oper „The Girl with the Pearlearring“ von Stefan Wirth zur Uraufführung. Thomas Hampson gibt dem Maler Vermeer seine baritonale Eminenz.

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          Am Anfang war das Bild. Später folgten Buch und Film. Jetzt hat das „Mädchen mit dem Perlenohrring“ auch die Opernbühne erobert: die „Mona Lisa des Nordens“, wie jenes geheimnisvolle Frauenporträt des Niederländers Jan Vermeer vermarktet wird. Die amerikanische Autorin Tracy Chevalier hat dem Gesicht einen Namen und eine Geschichte gegeben – Griet, eine künstlerisch empfängliche Dienstmagd im Hause Vermeer in Delft. Philip Littell – nicht verwandt mit Jonathan Littell, dem Autor des Romans „Die Wohlgesinnten“ (woraus ebenfalls schon eine Oper geworden ist – hat den Roman in ein schlüssiges Libretto für den Schweizer Komponisten und Pianisten Stefan Wirth umgearbeitet: „Girl with a pearl earring“ heißt die Auftragskomposition des Zürcher Opernhauses, die jetzt in englischer Sprache ihre heftig akklamierte Uraufführung feierte. Wie die Menschheit auch jüngst auf schmerzhafte Weise erfahren musste, sind Theater keine Sicherheitsgebäude, aber genau dies vermittelte die Zürcher Produktion: einen Schutzraum der Kunst, frei von jeglicher Aktualisierung, frei auch von der Versuchung, den Film nachzustellen. Eine filmische Komponente hat die Handlung ohnehin durch die Rückblenden, in denen Griet ihre Geschichte erzählt.

          Hätte man dieses Dienstboten-Dasein in den historisierenden Kostümen von Annemarie Woods vor der „Zeitenwende“ womöglich noch als trivial abgetan, so setzte man sich jetzt umso bereitwilliger einer Momentaufnahme imaginierter Kunstgeschichte aus, die nicht in Mord und Totschlag kulminierte, sondern sich aus Genreszenen zusammensetzte und das meiste in der Schwebe ließ. Schließlich geht es in dem Stück um das Sehen und den kontinuierlichen Perspektivwechsel.

          Im zweiten Akt (Wirth spricht von zweitem Satz) erteilt Vermeer Griet eine Unterrichtsstunde im Sehen, wenn er sie durch seine Camera obscura schauen lässt. Und gleichzeitig sieht auch er neu, wenn er in Griets erstauntem Gesicht feststellt: „Deine Augen sind sehr rund.“ Da wird die Musik ganz zart, bevor sie wieder mächtig aufdreht, sobald Griet ein zweites Mal durch die Camera blickt und das Orchester unter Peter Rundels straffer Leitung alles an Farben und Emotionen aufbietet, was sich im inneren Auge von Griet abspielen mag.

          Aus dieser zentralen Szene leitet sich die hoch konzentrierte, perfekt gearbeitete Inszenierung von Ted Huffmann (Regie), Andrew Lieberman (Bühnenbild) und Franck Evin (Lichtgestaltung) ab. Der abstrakte dunkle Raum der Bühne ist die begehbare Camera obscura, für die Protagonisten, aber auch für die Zuschauer, die sich in diesem Raum zurechtfinden müssen, sobald die Drehbühne mit samt Lichttafel die Perspektive verschiebt. Dabei ergeben sich oft häusliche Szenen, die an Gemälde Vermeers appellieren, etwa die „Dienstmagd mit Milchkrug“ oder „Das Konzert“ zu Ehren des Mäzens Van Ruijven (Iain Milne), der später Griet zu vergewaltigen versucht.

          Wirth selbst spricht von der „black box“ und meint damit vor allem die Figur des Vermeer selbst, über dessen Leben wenig bekannt ist. Mit der baritonalen Eminenz von Thomas Hampson erhält er freilich das Bühnenleben eines visionären Malers, dem es allein um sein Werk geht. Eine Künstleroper ist Wirths erstes großes Musiktheater allerdings nicht, denn erzählt wird ausschließlich aus der Perspektive von Griet. Die junge Amerikanerin Lauren Snouffer erfüllt diese Rolle souverän, zwischen Innen- und Außenwelt, Dienstmagd und Muse, erotischer Anziehung und Pflichtgefühl, Erinnerung an vergangenes und Selbstbehauptung im gegenwärtigen Leben. Am Schluss verkauft sie die Perlenohrringe heimlich für dreißig Gulden – im Buch waren es noch zwanzig. Griets Gegenspielerin, Vermeers eifersüchtige Ehefrau Catharina, verkörpert Laura Aikin mit hochherrschaftlicher Attitüde, während Liliana Nikiteanu als geschäftstüchtige Maria Thins keinen Zweifel aufkommen lässt, wer die eigentliche Herrin im Hause Vermeer ist.

          Der anglophil ausgerichtete Schweizer Stefan Wirth, Jahrgang 1975, ist ein rechter Theaterfuchs, der sein Handwerk auf der orchestralen und vokalen Klangpalette wie ein Maler beherrscht, stilistisch up to date, aber ohne Methodenzwänge. Wie wichtig Wirth vor allem die Textverständlichkeit ist, demonstriert er mit seinen Gesangspartien, die bis auf ein paar knappe Ensembles dialogisch angelegt sind. Auch orchestral wechselt die Per­spektive oft zwischen innen und außen, wenn immer wieder die Kirchenglocken von Delft hereinläuten. Im Atelier, wo Griet nichts verändern darf, dehnt sich ihre Melodie, wandelt sich die Musik in Wischgeräusche ihres Putzens.

          Manchmal stürzt die Musik regelrecht ab, etwa aus dem hochgeführten, nächtlichen Interludium in die Niederung der Metzgerei. Orchestrale Wucht, dramatische Tremoli im Kontrabass beim Ohrstechen und kammermusikalische Verdichtung folgen den einzelnen Szenen wohl sortiert, sogar ein holländischer Meister des siebzehnten Jahrhunderts wird einmal am Cembalo herbeigerufen. Leitmotivische Aufgaben haben die Flöten, deren Lippenarbeit einmal wörtlich genommen wird, wenn Griet von ihrem Liebhaber Pieter, dem Metzgerssohn (Yannick Debus), berichtet, er habe sie in die Lippe gebissen.

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