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„Figaro“ in Berlin : Sommergäste im Mozartland

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Eigentlich müsste es „Le nozze di Susanna“ heißen, denn Anna Prohaska ist als Susanna pure Musik. In Jürgen Flimms Berliner „Figaro“-Inszenierung sprengen die Sänger die Bank. Und lassen dabei sogar die Bremstaktik des Dirigenten vergessen.

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          Der tolle Tag beginnt mit D-Dur und einem haltlosen Ausbruch von Heiterkeit in der Fagottfraktion. Wer kichert am schnellsten, unfallfrei, presto, prestissimo? Es handelt sich zwar nur um sechs Takte Musik. Doch die haben schon Generationen von Fagottisten um den Schlaf gebracht. Diese quecksilbrige, lebenssprühende „Sinfonia“ (wie Wolfgang Amadeus Mozart die Ouvertüre zu seiner Oper „Le nozze di Figaro“ genannt hatte) gehört fest zum Kanon virtuoser Fagottprüfungsstücke bei Auditions.

          Freilich, an diesem Berliner Premierenabend, in der Staatsoper Unter den Linden, im Exil im Schillertheater, haben die Fagottisten der Staatskapelle ganz bestimmt keinen Prüfungsstress. Gustavo Dudamel, der Dirigent, hat es nicht eilig. Er gibt für seinen „Figaro“ von Anfang ein tempo giusto vor. Auch werden die Mittelstimmen kaum ausdifferenziert, pastose Gemütlichkeit breitet sich aus. Ja, es ist, als wolle Dudamel, der zum ersten Mal eine Premiere an der Lindenoper gestaltet, kein Risiko eingehen und auf Sicherheit dirigieren, wie mit angezogener Handbremse, was freilich eine entschieden unmozärtliche Musizierhaltung ist, die dieser an Überraschungen, Haken und Ösen überreichen Wundertütenpartitur naturgemäß nicht ganz gerecht wird, auch wenn das Aufgipfeln zum Fortissimo gegen Ende jeder Nummer die Abwesenheit von Brio und metrischer Dynamik schön übertönt.

          Der Lenz der Liebe altert nie

          Das ist wirklich schade. Aber erstens sind Beweglich- und Durchsichtigkeit im Graben das Einzige, was dieser Nacht zum vollen „Figaro“-Glück fehlt. Zweitens, da eh nicht zu ändern, ist Dudamels Bremstaktik auch rasch vergessen und verziehen, die Ohren, duldsamste aller Sinnesorgane, gewöhnen sich. Und, drittens: Jetzt kommen die Sänger.

          Sie ziehen, während der krachend lauten Ouvertüre, mit Gepolter aus dem Parkettfoyer ins Theater ein, stolpern über die Rampe quer ums Orchester herum, mit Sack und Pack und mit einem Haufen schwerer Koffer, denn es ist Bettenwechsel im Urlaubsquartier Lindenoper, Graf Almaviva nebst Gattin und Gesinde sind die neuen Sommergäste. Sie kommen, um Ferien zu machen, am Meer. Beziehen Quartier in einem Strandhaus, das, in seiner südlichen, luftigen Holz-Jalousien-Architektur ganz entschieden an das Bayreuther „Walküre“-Bühnenbild aus dem „Flimm-Ring“ von 2000 erinnert, nämlich an die Hunding-Veranda, in die Schilf und Strandhafer hineinwucherten, als der Lenz der Liebe zu lachen begann.

          Damals, vor rund sechzehn Jahren, besorgte Erich Wonder die Ausstattung. Diesmal, in Jürgen Flimms neuer Berliner „Figaro“-Lesart, hat ihm Wonders Schülerin Magdalena Gut ein Bühnenbild gebaut, in dem Flimm sich ausführlich selbst zitieren und bespiegeln kann. Er kennt das Stück in und auswendig. Hat den „Figaro“ gemeinsam mit Nikolaus Harnoncourt schon vor zwanzig Jahren in Zürich und davor in Amsterdam inszeniert. Aber: alter Witz, gut erzählt, wirkt wie neu. An den einst weißen Lamellen der Jalousien, second hand und inzwischen etwas grau geworden, blättert die Farbe. Sie sind, gemeinsam mit Flimm, gealtert. Doch der Lenz der Liebe altert nie, er ist einfach unsterblich, davon träumen ja auch die Alten immer weiter, und werden im Traume wieder jung.

          Flimm träumt, wir träumen mit: von einem jungen Mädchen in einem hellen kurzen Kleid, es trägt Söckchen und weißblaue Budapester Schuhe mit Lochmuster, heißt Susanna, räkelt sich im Liegestuhl und träumt seinerseits von der Hochzeit mit dem hübschen Kerl Figaro, der so ein gutmütiger Trottel ist, dass man ihm andauernd Bescheid sagen muss, wo es langgeht.

          Ginge es nach Mozart, behauptet Dieter Borchmeyer, dem uneingeschränkt zuzustimmen ist, müsste „Le nozze di Figaro“ eigentlich richtig „Le nozze di Susanna“ heißen. Schließlich: Sie heiratet ihn, nicht umgekehrt. Und wenn Anna Prohaska die Susanna singt, so ist das, auch wenn ihr farbenreicher Sopran nicht die Wucht hat, die diese Partie eigentlich bräuchte, doch ein elementares Ereignis: sie ist zugleich Wirbelwind und Sturmbraut. Und ein milder Zephir (beispielsweise in der Rosemarie) obendrein.

          Wer ist so glücklich wie ich?

          Halb lachend, halb weinend nimmt Susanna mitten im dritten Akt zur Kenntnis, dass Figaro, das Findelkind, komödiengerecht plötzlich Eltern bekommen hat und sich folglich alle Kabalen um die verhinderte Hochzeit in Luft auflösten: „Chi al par di me contenta?“ Wer ist so glücklich wie ich? Prohaska steht für einen Moment, inmitten des Ensembles, ganz allein. Sie staunt. Dann rufen alle anderen: „Ich auch!“ Und schon fällt der klugen Susanna ein, wer sich ganz sicher ärgern wird an ihrem Glück: „Von mir aus kann der Herr Graf platzen!“

          Die Prohaska ist von Kopf bis Fuß pure Musik. Sie ist unwiderstehlich zickig im Duett mit Marcellina, die in dieser Produktion ausnahmsweise nicht als alte Schachtel, sondern, dank Katharina Kammerloher, jung, sexy und volltönend daherkommt. Sie ist wunderbar kokett im Duett mit dem Pagen Cherubino, der sich, Verkörperung Amors, grundsätzlich in jeden Rock verknallt - und Marianne Crebassa bringt perfekt den juvenil-biegsamen Liebreiz für diese Rolle und zugleich eine große Stimme mit. Schließlich, im Duett mit Rosina, der tragischen, jungen Liebeskummergräfin (für die es wohl derzeit keine bessere Besetzung gibt als die hinreißende, dramatisch wahrhaftige Dorothea Röschmann), findet auch Prohaskas Susanna-Sopran zu voller Blüte; sie wird zum Schwesterherz.

          Kurz: Es sind die Frauenstimmen, die gemeinsam die Bank sprengen in diesem bezaubernd leichten, alt-jungen Ferien-Figaro“. Wahrhaftig, auch Figaro (Lauri Vasar) sowie der Graf (Ildebrando D’Arcangelo) und alle anderen können sich hören lassen. Für Jürgen Flimm aber, der ab März 2016 in seinem Amt als Lindenopern-Intendant von dem designierten neuen Intendanten Matthias Schulz sukzessive abgelöst werden soll, mag diese Regiearbeit so etwas wie eine Riesenabschiedsparty sein. Zuweilen balanciert er in seinem Übermut hart am Rande der Klamotte - aber natürlich, Flimm ist ein Könner, er stürzt nie ab. Er weiß auch, dass der vierte Akt ein Nachtstück werden muss. Die Wände heben sich und eine Sanddüne schiebt sich ins Haus. Das Licht schwindet. Nebel hebt sich. Die Komödie versinkt vorübergehend in Kummer und Verrat. Und dann wird alles gut.

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