Festspiele in Aix-en-Provence : Am Tor zur Hölle
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Tobias Kratzer zeigt in Rossinis Oper „Moses und Pharao“ das Volk Israel in Ägypten: Es ist ein Flüchtlingslager von heute. Bild: Monika Rittershaus
Bei den Festspielen in Aix-en-Provence beglückt Tobias Kratzer das Publikum mit einer Rossini-Inszenierung, Pascal Dusapin verblüfft mit einer unterhaltsamen Dante-Vertonung, Romeo Castellucci aber macht das Publikum zur Geisel.
Die Sterne leuchten über der Aufführung von Gioacchino Rossinis geistlicher Oper „Moïse et Pharaon“ im Théâtre de l’Archevêché in Aix-en-Provence. Die Akustik trägt bestens, jedes Pizzicato der Celli, jeder Oboenton ist von der Ouvertüre an deutlich zu hören. Michele Mariotti am Pult des Orchestre de l’Opéra de Lyon stellt klar, warum Rossini von seinen Zeitgenossen europaweit gefeiert wurde; durch musikalische Kompetenz und Intensität wird der Abend zu einem beglückenden Ereignis.
Neben dem Einsatz Mariottis ist es die starke Regie von Tobias Kratzer, die den musikalischen Rhythmus achtet und die Räume öffnet, in denen Belcanto aufblühen kann. Dabei erzählt er durchaus eine eigene Geschichte. Das Volk Israels, das mit seinem Anführer Moïse seit zwanzig Jahren rechtlos in Ägypten vegetiert, gleicht in zusammengewürfelten Kleidern unserer Zeit den Bewohnern eines Flüchtlingscamps (Bühne und Kostüme: Rainer Sellmaier). Der Chor der Oper Lyon agiert in seiner Rolle als Gruppe von Menschen der Gegenwart sehr überzeugend. Fast glauben die umhergestoßenen displaced persons nicht mehr an die göttlichen Heilszusagen, die Moïse ihnen immer wieder einhämmert. Er allein stellt sich als zeitloser Wüstenheiliger dar, mit weißem, langem Haar, Pilgerstab und Wollumhang. Die andere Seite ist das Machtzentrum des Pharao, dessen Mitarbeiter in Designeranzügen in der geschmackvoll dekorierten Chefetage von Memphis arbeiten — auf Kosten der versklavten Hebräer. Doch in der Gesellschaftskritik erschöpft sich die Aussage nicht. Kratzer arbeitet die Wirkung der Ereignisse auf die Personen heraus.
Durchs Rote Meer auf Schlauchbooten mit Rettungswesten
Wie er etwa die plötzlich hereinfallende Dunkelheit als Plage für die Ägypter inszeniert, ist glaubwürdig konkret und eröffnet durch sinnvollen Einsatz von Bildprojektionen zugleich den Raum für Arien, Duette, Tableaus. Das große Gebet „Des cieux où tu résides“ (Herr, der du im Himmel wohnst) umfasst alle, Solisten und Chor, Freund und Feind. Es bereitet die wundersame Errettung der Flüchtlinge beim Durchqueren des Roten Meeres vor, auf Schlauchbooten und mit Rettungswesten.
Die Solisten wissen jederzeit, was ihre Figuren umtreibt. Neben dem erfahrenen Michele Pertusi als Moïse kann sich eine junge Garde aufstrebender Künstler profilieren: die Mezzosopranistin Vasilia Berzhanskaya, der lyrische Tenor Pene Pati, schließlich die Koloratursopranistin Jeanine de Bique als Flüchtling, die mit ihrem atemraubend sicheren Gesang die Herzen des Publikums rührt.
Wie aber adaptiert man Dantes „Göttliche Komödie“ für eine Hundert-Minuten-Oper? Das Ergebnis entpuppt sich im Grand Théâtre de Provence als unterhaltsam. Bei der Uraufführung von „Il Viaggio, Dante“ führt ein Erzähler durch das Programm wie ein Conférencier in einem Varieté; der Verfolger-Scheinwerfer ist stets auf ihn gerichtet. Aus Dantes „Commedia“ und „Vita Nova“ extrahierte der Schriftsteller und Übersetzer Frédéric Boyer italienische und lateinische Textbausteine zu einer Abfolge von sieben Tableaus, zu einer Reise in höllische Abgründe und den Aufstieg in das Licht der Selbsterkenntnis.
Pascal Dusapin stellt in seiner Komposition die wunderbare Sprache Dantes durchaus in den Vordergrund. Das Orchester ist von kammermusikalisch überschaubarer Größe, die Musik wirkt transparent und am Text entlang konzipiert, sodass die Stimmen der Sängerinnen und Sänger gut tragen. Ein erweitertes Schlagwerk mit reizvollen Einlagen von Orgel und Glasharmonika bereichert den Klangapparat (Orchestre de l’Opéra de Lyon, geleitet von Kent Nagano).