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Uraufführung in Frankfurt : Tod, wo ist dein Mindesthaltbarkeitsdatum?

Die Erzählerin vor dem Diorama: Katharina Linder (im Vordergrund) mit Stefan Graf und Tanja Merlin Graf bei der Frankfurter Uraufführung. Bild: Jessica Schäfer

Lebensunfähig, todessehnsüchtig, fremdgesteuert: Rieke Süßkow inszeniert die Uraufführung von „Mein Lieblingstier heißt Winter“ nach dem Roman von Ferdinand Schmalz am Schauspiel Frankfurt.

          3 Min.

          Im eher unglücklichen, weil weitgehend ungeklärten oder gleich völlig asynchronen Verhältnis, das seit etlichen Jahren zwischen wehrlosen Romanvorlagen und ihren mehr oder weniger skrupellosen Theaterfassungen herrscht, hat die Regisseurin Rieke Süßkow zumindest in einer Hinsicht endlich für klare Verhältnisse gesorgt: Wenn der Erzähler schweigt, reden die Figuren.

          Hubert Spiegel
          Redakteur im Feuilleton.

          Gleichzeitig gilt umgekehrt: Wenn der Erzähler spricht, tun die Schauspieler – nichts. Sie sprechen, spielen, mucken nicht. Sie sind erstarrt, wie eingefroren mitten im Satz, inmitten ihrer Bewegungen, und überdies noch kleinräumig eingekastelt. Sie werden eingeschaltet und wieder abgeschaltet. Sie sterben und erwachen wieder zum Leben. Wie sollten sie da wissen, was der Tod ist?

          Comicfiguren im Schauschächtelchen

          Katharina Linder ist die allmächtige Erzählerin: weißblonder Pferdeschwanz, leuchtend weißer Lackkittel, lange schwarze Latexhandschuhe. Halb Domina, halb Krankenschwester. Also eine weibliche Erzählerfigur mit Schmeichelstimme, die Wunden schlägt und Wunden heilt. Mal so, mal so.

          Wenn sie hinter ihrem im Souffleusengraben versenkten Dirigentenpult die Stimme erhebt, sind auf der Bühne alle augenblicklich still. Die ausdrucksversessene Mimik, Gestik und Körpersprache haben die Schauspieler von Comicfiguren, den Teint aus dem Wachsfigurenkabinett, ihre Sprache folgt dem Prinzip, mit dem Werner Schwab in den frühen Neunzigerjahren fulminante Bühnenerfolge feierte: einer Mischung aus Dialekt, absurden Wortschöpfungen, Syntaxgymnastik und den verdreht-geschraubten Redewendungen des Kleinbürgers, der sich gern gewählt ausdrücken würde, es aber nicht gelernt hat. So steigern sich der Bedeutungsverlust der Sprache und die Sprachohnmacht der Figuren gegenseitig ins Groteske und in die Verzweiflung. Oder, wie Werner Schwab es ausdrücken würde: „Die Sprache hat sich nichts zu sagen.“

          Dioramen, die sich drehen wie Karussellpferdchen: das Frankfurter Bühnenbild von Marlene Lockemann
          Dioramen, die sich drehen wie Karussellpferdchen: das Frankfurter Bühnenbild von Marlene Lockemann : Bild: Jessica Schäfer

          Die ohnehin begrenzte Bühne des Frankfurter Kammertheaters ist an diesem Abend reduziert auf mehrere Dioramen: variable Schauschächtelchen, die sich um eine Mittelachse drehen wie Karussellpferdchen. Da kommt Jahrmarktsatmosphäre auf, die aber sogleich neutralisiert wird durch gravitätische Choral- und Orgelklänge zwischen den einzelnen Szenen und Bildern. Man könnte auch an „Völkerschauen“ denken oder ans Wiener Naturhistorische Museum mit seinen ausgestopften Löwen und Antilopen: Jäger und Beute, vereint in regungsloser Schockstarre.

          Von derlei Exotismus hält Ferdinand Schmalz indes nicht viel. Ihm ist der österreichische Alltagsmensch fremdartig genug. In seinem 2021 erschienenen Roman „Mein Lieblingstier heißt Winter“ erzählt er die bizarre Geschichte des fahrenden Tiefkühlkostverkäufers Franz Schlicht, der in einen bizarren Strudel seltsamer Ereignisse gerät, bei denen es unter anderem um Selbstmorde, tiefgekühltes Rehragout, Eis am Stiel, amourös-amorphe Gefühlswallungen, Erpressung, Gebäudereinigung, Obduktionen und Christbaumkugeln mit Hakenkreuz geht. Jenes fidel vor sich hin rottende Österreich, wie man es bei Werner Schwab und in den blutrünstigen Brenner-Romanen von Wolf Haas kennengelernt hat, ist hier mal wieder ganz bei sich. Von ferne grüßt das Volkstheater eines Ödön von Horváth, der einmal zaghaft daran erinnert hat, dass es sich bei seinen Figuren nicht um „Juxspiegelbilder“ handle.

          Ein todessehnsüchtiges Trüppchen

          Rieke Süßkow inszeniert die Frankfurter Bühnenfassung, die sie zusammen mit der Dramaturgin Katja Herlemann erstellt hat, im Stil einer Moritat, einer schaurigen Ballade über Liebe, Mord und Totschlag, zu der in den Dioramen Tableaux vivants gezeigt werden: Figurenarrangements, lebendig, aber bewegungslos. Dabei können die sechs Schauspieler, die in wechselnden Rollen agieren, jederzeit zum Leben erwachen: für einen kurzen Dialog, einen Satz, ein einzelnes Wort. Ihre Perücken und Halbmasken verstärken den antinaturalistischen Effekt des ausgeklügelten Bühnenbilds von Marlene Lockemann noch. Der amerikanische Bildhauer Duane Hanson holte in den Siebzigerjahren mit seinen hyperrealistischen Figuren, die unvermittelt in einem Ausstellungssaal auf dem Fußboden lagen, ein Stück Realität ins Museum. In ihrer Frankfurter Inszenierung gehen Marlene Lockmann und Rieke Süßkow den umgekehrten Weg: Sie holen die Zombies, die künstlichen Menschen, die wie auf Knopfdruck in Bewegung oder Erstarrung verfallen, aus der Realität auf die Bühne und stellen sie im Diorama aus, als wären sie Objekte, still gestellt, ausgestopft oder eilig zusammengeschustert.

          Nach einer guten Stunde stellt sich indes die Frage, ob es der Inszenierung gelingen kann, den immer enger werdenden Rahmen des Dioramas zu sprengen. Die Effekte sind durchbuchstabiert, die erstarrten Gesten und eingefrorenen Bewegungen beginnen, sich zu wiederholen. Aber aus dem Leben im Perma­frust, wie Ferdinand Schmalz es beschreibt, gibt es kein Entkommen. Die Krimihandlung treibt mit dem Lebendbegräbnis des Tiefkühlkostfahrers Franz Schlicht ihrem grotesken Höhepunkt entgegen, aber die Auflösung des verwickelten Falls spielt da schon keine Rolle mehr. Christina Geiße, Tanja Merlin Graf, Stefan Graf, Anabel Möbius, Melanie Straub und Wolfgang Vogler haben ein deformiertes, fremdgesteuertes, lebensunfähiges und todessehnsüchtiges Trüppchen verkörpert, das wie Zeichentrickfiguren nicht sterben kann. Also wissen sie auch nicht, was Leben heißt.

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