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Streichquartett Berlin : Wie es ist, Brahms fort und fort zu lieben

Endlich geraten sie außer sich: Das Streichquartett der Berliner Staatskapelle mit Elisabeth Leonskaja im Boulez-Saal. Bild: Monika Rittershaus

Mit Instinkt und Wissen: Die russische Pianistin Elisabeth Leonskaja und das Streichquartett der Staatskapelle Berlin reißen das Publikum im Pierre-Boulez-Saal mit.

          3 Min.

          Was man doch aus einem Nichts von Achtelpause machen kann! Elisabeth Leonskaja sitzt im Berliner Pierre-Boulez-Saal am Flügel, schlägt den ersten A-DurAkkord im Klavierquartett op.26 von Johannes Brahms an und lässt ihn erst einmal atmen. So legt sie in einem winzigen Augenblick Ton und Tempo einer großen Erzählung fest, indem sie locker lässt. Sie gibt dem Ausklingen sofort Raum und sagt: Wir haben Zeit, wir müssen nicht eilen, wir sind nicht die Gedrängten dessen, das uns auf den Leib rückt; vor uns liegt Weite. Und Claudius Popp vom Streichquartett der Staatskapelle Berlin antwortet ihr im fünften Takt auf dem Violoncello mit wiegenden Achteln, zwischen die sich dann und wann ein fast schon altmodisches, unerhört liebenswertes Portamento schleicht, ein gefühlsseliges Gleiten von einem Ton zum nächsten, das vom Hingerissensein erzählt, von der Fähigkeit zu schwärmen, auch von gelassen lächelnder Melancholie.

          Jan Brachmann
          Redakteur im Feuilleton.

          Es ist schon erstaunlich, wie entschieden der junge Brahms, noch keine dreißig Jahre alt bei der Uraufführung der beiden Klavierquartette op.25 und 26, hier seine mentale „Umheimatung“ vornimmt. Aus dem Hamburger wird ein Wiener. Die Ruhe des Erzählens, die dem eigenen Sagen immer wieder nachlauscht, von der ersten Achtelpause an, ist von Franz Schubert inspiriert, den Brahms viel schwärmerischer verehrte als Ludwig van Beethoven, in dessen Nachfolge er früh gestellt wurde. Wie Brahms in diesem A-Dur-Quartett die motivische Strenge Beethovens mit Schuberts großzügigem Freilassen des Materials versöhnt, ist ein gestalterisches Wunder von unfassbarer Frühreife. Und besingt das Poco adagio des zweiten Satzes mit seinen hügelkettengleichen Achteln in der Begleitung der Eingangsmelodie nicht wortlos die Waldheimat des von Brahms später so sehr verehrten Peter Rosegger, noch bevor sie sprachlich beschrieben wurde?

          Leonskaja, die seit vierzig Jahren in Wien lebt und eine Schubert-Interpretin von höchstem Rang ist, spürt durch Instinkt wie Wissen gleichermaßen diesen Kriechstrom zwischen Schubert und Brahms, diese jähe Affinität des Norddeutschen zu Kakanien, auch im empathischen Aufgreifen der slawischen wie ungarischen Idiome. Natürlich ist der Mittelteil dieses Poco adagio Fragment einer tschechischen oder ukrainischen Dumka, natürlich das Rondo alla zingarese am Ende von op. 25 ein Csárdás. Aber ebenso stellt sich der Kopfsatz dieses g-Moll-Quartetts in die Tradition logischen Denkens der Wiener Klassik. Und die Musiker des Streichquartetts der Staatskapelle Berlin spielen hier genau auf die Pointe des thematischen Prozesses hin: Vor der Coda taucht eine Schlusskadenzformel auf, die bereits zur Substanz des Anfangsthemas gehörte. Es ist ein Spiel mit syntaktischen Positionen der Form, mit Anfang und Ende, seit Joseph Haydn und Beethoven kultiviert, hier von Brahms als eine dramatische Enthüllung inszeniert.

          Die Staatskapelle Berlin hatte schon in der Weimarer Republik, als sie noch die Preußische Staatskapelle war, ein eigenes Streichquartett, das auch in der Zeit der DDR, 1953 wiederbegründet durch Egon Morbitzer, auftrat. Irgendwann ist diese Tradition eingeschlafen. Daniel Barenboim, der Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden und Chefdirigent der Staatskapelle, hat das immer bedauert. Im Jahr 2016 trat er auf seinen neuen Konzertmeister Wolfram Brandl zu und fragte ihn, ob sich die Stimmführer der Streicher in der Kapelle nicht wieder zu einem Quartett zusammenfinden könnten. Seitdem machen Brandl und Popp mit Krzysztof Specjal an der zweiten Violine und Yulia Deyneka an der Bratsche zusammen Kammermusik.

          Das Programm lehnt sich jeweils eng an das der Kapelle an, was zeitökonomisch ja auch klug ist. Denn warum sollte das Quartett nicht auch Brahms spielen, wenn die Kapelle gerade mit den vier Brahms-Symphonien durch die Welt reist und sie so eindringlich auf CD (Deutsche Grammophon/Universal) aufgenommen hat?

          Die zwei Konzerte mit den drei Klavierquartetten und dem Klavierquintett zeigen im Berliner Pierre-Boulez-Saal ein Ensemble von äußerster Detailsorgfalt, das Stricharten und Phrasierungen streng aufeinander abstimmt. Das Bedürfnis, sich zu kontrollieren und zu koordinieren, ist noch größer als das Wagnis, sich auch einmal zu exponieren oder sich – von der vernichtenden Wucht des c-Moll-Quartetts etwa – fortzureißen zu lassen. Im f-Moll-Quintett, jener großen tragischen Geschichte, die Clara Schumann darin hörte, gelingt ihnen aber auch das. Im grimmig glühenden, atemlos keuchenden Scherzo, dessen Name eine Farce ist, geraten sie außer sich, rückhaltlos, endlich. Jubel im Saal!

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