Theaterpremieren in München : In der Aphorismenfeuerwerksfabrik
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Auf gehts, ihr Heldinnen: Szene aus „hildensaga. ein königinnendrama“ von Ferdinand Schmalz Bild: Arno Declair
Wenn die Kunst dem Leben Contra gibt und dabei allen Halt verliert: Ein „Käthchen“ und eine „hildensaga“ in München am Residenztheater und am Volkstheater.
Was hat die Kunst dem Leben entgegenzu-setzen? Der Maskerade des gesellschaftlichen Systems. Der Unfreiheit der Gedan-ken. Der inneren Gespaltenheit in Gut und Böse. Der Sehnsucht nach wahrhaftiger Emotionalität, bis in den Tod. 1979, als Christa Wolf (1929–2011) ein literarisches Zusammentreffen der Schriftsteller Hein-rich von Kleist (1777bis 1811) und Karoline von Günderrode (1780 bis 1806) fingierte und ihr die beiden Biografien im direkten wie indirekten Monolog eng verwebende Werk mit der wörtlichen Übersetzung von Utopie „Kein Ort. Nirgends“ betitelte, lautete die Antwort (mit Blick auf die Kulturzensur der DDR): leider nichts.
Auch Kleist und Günderrode fanden beide keine sie befriedigende, befriedende, befreiende Lösung – sie nahmen sich das Leben. Kleists Gegenentwurf, „Das Käthchen von Heilbronn“, ein „großes historisches Ritterschauspiel“, fiel wohl genau wegen seiner unbeirrbaren Hingebung an Gefühl und Traum, Wunsch und Wunder bei Iffland wie Goethe gnadenlos durch. Kleist, verärgert, entgegnete noch, dies läge sicherlich daran, dass die Hauptfigur ein Mädchen sei, kein Junge. Dass aber selbst das Geschlecht ein „Ach!“ nicht in ein „Ach so!“ verwandeln kann, zeigen nun 140 Minuten Kleist mit Wolf im Münchner Cuvilliéstheater.
Vor Kleists Femegericht
„Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke“, lassen Hausregisseurin Elsa-Sophie Jach und Dramaturg Michael Billenkamp gleich zu Beginn ihrer „Käthchen“-Fassung Wolfs Geheimrat sagen. Und dieser goethianische Kalauer ist nur ein Puzzlesteinchen aus der Aphorismenfeuerwerksfabrik einer cremeweißen Teegesellschaft, die per Video in die scherenschnittartige Höhlenkulisse von Kleists Femegericht projiziert ist. Dadurch stehen zunächst der Autor selbst und unmittelbar darauf sein Käthchen im Kreuzverhör, das stolz die Emotionen als Motor ihrer scheinbar naiven Handlungen aufdeckt.
Vincent zur Linden spielt beide Figuren in zartseidiger Androgynität. So wird sein Heinrich regelmäßig durch den von spitzen virtuellen Fingern gerafften Vorhang aus seiner eigenen Vision ausgespien und stürzt sehr sinnbildlich zu Boden. Im Gegensatz zu dieser authentischen, ungläubig vor ihrer Welt stehenden Doppelrolle wirken alle übrigen Figuren, die aus dem Chor der Cremeweißen hervorgehen wie Marionetten, geführt an Kleists/Käthchens Schicksalsfäden.
In Tai-Chi-Geschwindigkeit
Jach kennt ihren Kleist aus drei weiteren Inszenierungen, und gerade erst hat sie Goethes „Werther“ in München mit Texten der Günderrode verknüpft. Doch was der Abend zwischen Schein und Sein, Latex und Halskrause, Ulk und Pathos sowie natürlich auch Dystopie und Utopie präsentiert, ist zugleich, was ihn in der Be-antwortung seines Auftrags – eben der Kunst das Leben entgegenzusetzen oder umgekehrt – recht diffus, ja, trotz des wandelbaren Ensembles, langatmig macht. Denn die andauernden Brüche zwischen vorgestern und gestern, die vielen schrillen Ecken und Kanten – etwa die giftgrün plexigläserne Burgattrappe von Marlene Lockemann, die sieben jeden Rahmen sprengenden Gesangseinlagen oder die orientierungslosen Handbewegungen in Tai-Chi-Geschwindigkeit, die Vassilissa Reznikoffs Cyborg-Kunigunde wohl futuristisch rahmen sollen – lassen eines ganz vermissen: den Bezug zur Wirklichkeit.
Eine Art Lebenseinstellung, welche den Mix aus Kleist-Drama und Wolf-Medley irgend motivieren, zumindest aber die allerletzte Replik – Kleist fragt, ob jeder Mensch ein unaussprechbares Geheimnis habe, Günderrode erwidert: „In dieser Zeit? Ja.“ – über die vierte Wand hinaustragen würde. Verschenkte Pointen eines viel mehr versprechenden Szenarios.
Das sieht am darauffolgenden Münchner Premierenabend anders aus: Eine weitere ungewöhnliche Paarung, noch einmal wird literarische Geschichte welt-, sozial- und gesellschaftspolitisch hinterfragt. Doch diesmal gibt die Kunst dem Leben mitsamt seinen vermeintlichen Setzungen vehement Contra.
Ferdinand Schmalz hat in „hildensaga. ein königinnendrama“ – als Auftragsarbeit in diesem Juli uraufgeführt bei den Nibelungenfestspielen Worms – ein sattes Stück Realität geschaffen, das zwar voll aus dem mittelhochdeutschen Nibelungenmythos schöpft, sich dabei aber auf eine hochintelligente zeitgemäße, feministische Weise verselbstständigt. „brünhild“ und „kriemhild“, von den Männern der Sage hintergangen, benutzt, misshandelt, schließen darin eine wilde Allianz wider den patriarchalen Machtmissbrauch.
Am fahlweißen Krater-Rund
Ein in jeder narrativen, konstruktiven und textilen Faser seiner archaischen Moderne fantastisches Theaterereignis gelingt Regisseurin Christina Tscharyiski, Bühnenbildnerin Sarah Sassen und Kostümbildnerin Svenja Gassen im Münchner Volkstheater. Jeder und jede Einzelne aus dem Ensemble um Henriette Nagels stolze brünhild und Nina Steils’ süße kriemhild zeichnet bis in die lackierten Fingerspitzen hinein spannende Typen. Sowohl im leeren fahlweißen Krater-Rund einer bebenden Ebene namens Island als auch im engen, urwüchsigen, unterirdischen Maulwurfsgangsystem Burgunds, ja sogar noch – obwohl er Vieles schluckt – im Kinospuk aus Infrarot, live abgefilmt im zwergenhaften Fake-Wald-Studio des letzten Teils, begeistern sie alle durch präzise, individuelle Körperlichkeit. Gepaart mit dem brillanten Sprachwitzgeschick des österreichischen Dramatikers kleidet ironiegeladene Patchwork-Synthetik diese Körper stellvertretend in die nicht-vorhandene Flora und Fauna der unwirtlichen Orte.
Vor einem Scheitern ist auch diese Aug-um-Aug-Abrechnung nicht gefeit, die drei Schicksalsfäden spinnenden Nonnen eingeschlossen. Denn die Spirale der Gewalt bleibt auch mit emanzipierten Geschlech-terrollen bestehen, reißt alle mit sich, führt textlich weit über den Bühnenrand hinaus bis vor die Füße des Publikums.