„Doktor Alici“ in München : Bayern, 2023
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Regenprasseln, Rabenkrächzen, nostalgisch-atonale Thrillermusik: Die Irritation liegt in der Kombination. Bild: Armin Smailovic
Die Uraufführung von Olga Bachs „Doktor Alici“ nach Schnitzlers „Professor Bernhardi“ an den Münchner Kammerspielen ist eine derbe Groteske voller Pappfiguren. Erst ganz am Schluss bleibt Platz für Zwischentöne.
Die Komödien von gestern können die Tragödien von morgen sein. Wohl dem, der sie in der Zwischenwelt von heute zu spielen weiß, ob auf der politischen Bühne oder im Theater. „Du bist ein Überschätzer der Menschheit“, musste sich der jüdische Klinikdirektor Professor Bernhardi in Arthur Schnitzlers gleichnamigem Drama anhören. Er lächelte dazu. Er war ein Held. Einer, der mit reinem Gewissen für seine Überzeugung einstand und sich politische oder religiöse Vereinnahmung verbat. Im antisemitisch siedenden Wien um 1900 wurde er als Jude der „Religionsstörung“ angeklagt und verurteilt. Schnitzler nannte seine glänzende, subtil gezeichnete Gesellschaftssatire 1912 dennoch eine Komödie – und musste erleben, dass sie bis 1918 in Österreich verboten war.
Einhundert Jahre später sieht sich der Zuschauer in den Münchner Kammerspielen einem neonbunten Albtraum gegenüber – und ist irritiert. Nicht weil diese „Komödie in fünf Akten“ zwar eine Uraufführung nach Schnitzlers „Bernhardi“ ist, aber „Doktor Alici“ heißt und in einem München von 2023, genauer: im Sommer vor den nächsten Landtagswahlen spielen soll – ein recht knappes Zeitfenster für die Tragödie also. Nicht wegen der bedrohlich grellen Pop-up-Kleinstadt – das Bayern von morgen sieht dem Amerika von gestern schaurig ähnlich – und ihrer in Aussehen und Betragen höchst sonderbaren Einwohner. Und auch nicht aufgrund der ständigen Geräuschkulisse aus Regenprasseln, Donnergrollen, Rabenkrächzen, nostalgisch-atonaler Thrillermusik und fröhlich-ironischem Karl-Valentin-Repertoire, gegen die das Ensemble mit Mikroports antritt. Die Irritation liegt in der Kombination.
Provoziert durch die bayerische Tagespolitik
Die Dramatikerin Olga Bach hat aus Schnitzlers jüdischem Klinikprofessor die muslimische, homosexuelle Polizeipräsidentin Dr. Selin Alici gemacht, die „auf der Grundlage einer Gefahrenprognose“ die Entscheidung fällt, einen des Rechtsextremismus verdächtigten Mann in Untersuchungshaft zu behalten. Ob der Tod des Mannes hätte verhindert werden können, wenn sich sein Anwalt auf die Behandlung durch den Amtsarzt eingelassen hätte, ist ungewiss. Doch Dr. Alici wird als „gewissermaßen selbst persönlichst empfindlich betroffen“ bedroht und suspendiert. Den Handel, die mutmaßlichen Täter freizulassen und dadurch die Abschiebung ihrer Lebensgefährtin Maria zu verhindern, hat sie abgelehnt.
Bach behält Schnitzlers Szenenfolge und schnorrt sich einige Kernsätze („Gehen Sie als Feind. Es ist die ehrlichere Rolle“), übersetzt sie aber – provoziert durch die bayerische Tagespolitik um das Polizeiaufgabengesetz, um Kruzifix-Debatte, Kennzeichnungspflicht, Unendlichkeitsgewahrsam oder Gendersternchen – in eine derbe Groteske, in der es an politischen Fettnäpfchen, also auch an zitierten Floskeln und satirischen Rundumschlägen nicht mangelt. Bachs Titelheldin jedoch gerät derart unter Druck, dass ihre Heldenhaftigkeit bloße Behauptung zu bleiben scheint. Als sie zuletzt lacht, und das sehr laut, ist dieses Lachen bitter. Aber wer vermag schon hinter die Fratze zu schauen, die Ersan Mondtags Inszenierung auch aus Hürdem Riethmüllers Gesicht formt – statt ihre Alici zu isolieren. So geschminkt, bildet sie neben Samouil Stoyanov, Thomas Hauser, Christian Löber, Damian Rebgetz, Michael Gempart und Jelena Kuljić nur eine weitere schrille, steife, bonbonbunte Pappfigur des Typenkabinetts zweifelhafter Ordnungshüter im Schwarzlicht von Hausnummer 88.
Mit bedeutungsvoller Schwere lähmen
Zwar hat Mondtag die Gestaltung von Bühne und Kostümen diesmal an Nina Peller und Teresa Vergho abgegeben. Doch im bizarren Spiel mit der Oberflächlichkeit malerischer Zweidimensionalität trägt sie dennoch seine Handschrift. Auch hinter der Fassade des Neonhauses, was die Drehbühne offenbart, braut sich nur Offensichtliches zusammen – und regnet alsbald nieder. Mehr Tempo hätte dieser Uraufführung gutgetan. Aber anstatt auf die tragischen Abgründe zu vertrauen, welche die Komödie ohnehin in sich trägt, und angestiftet auch vielleicht durch Diana Syrses unheimliche Kompositionen, bremst Mondtag das Stück zuweilen aus, als wolle er den Abend mit bedeutungsvoller Schwere lähmen.
Olga Bach, Jahrgang 1990, und Ersan Mondtag, Jahrgang 1987, beide als starke junge Theaterstimmen hoch gehandelt, arbeiten bereits seit fünfzehn Jahren miteinander. Ob in der Beschäftigung mit der Angst vor dem Belanglosigkeitsdschungel einer Großstadtgeneration um die dreißig („Die Vernichtung“) oder mit der Zombie-Penetranz des kollektiven kulturellen Erbes als Schuld der Unschuldigen („Das Erbe“) – zusammen formen sie expressionistische Dystopien, die als gegenwärtige Vergangenheit vor der Zukunft warnen. Doch in „Doktor Alici“ finden die beiden Berliner nicht gut zueinander, stehen sich vielmehr gegenseitig im Weg. Erst ganz zum Schluss, im Epilog, den Mondtag aus dem Off vom Band spielen lässt, während sein Ensemble viele Minuten lang nichts anderes tut, als Wassermassen in Richtung Bühnengully zu kehren, ist Platz für Zwischentöne. Doch da ist es das Prasseln des Regens, das Text wie Bild, die Komödie von gestern wie die Tragödie von morgen in einer letzten Reizüberflutung mit sich schwemmt.