„Tod eines Handlungsreisenden“ : Zuschauerglück durch Gemütsverletzung
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Benjamin Lillie, Camill Jammal und Ulrich Matthes (v.l.n.r.) im „Tod eines Handlungsreisenden“ Bild: Arno Declair
Allein mit seinen Schatten: Am Deutschen Theater inszeniert Bastian Kraft Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ als Maßanzug für Ulrich Matthes.
Das ist sein großes Geheimnis: wie er da hinten, am äußersten Rand der leeren Bühnen, langsam durch den Türbogen tritt und in diesem Moment alles Gestern und Heute abstreift. Der Gang leicht schwankend, als wäre das rechte Bein ein klein wenig kürzer als das linke, die Augen aus der Ferne leuchtend, von seinem eigenen Schatten überragt und verfolgt, kommt er nach vorn und liefert sich den prüfenden Blicken aus. Lässt sich bereitwillig absuchen nach Zeichen seiner Zeit und Herkunft. Aber da ist nichts. Rein gar nichts, was ihn einordnen könnte. Das ist kein Mann der Gegenwart, keine Figur aus der Vergangenheit. Wie er dort steht, gleich auch am Tisch sitzt, ist er über alle Konnotationen erhaben. Ein Körper ohne Definition. Frei von historischer Bedeutung.
Ulrich Matthes ist kein richtiger Handlungsreisender, nie gewesen. Er hat keine Koffer dabei, keinen Hut auf dem Kopf. Zum Verkaufen fehlt ihm das Talent. Die Sprüche, die er sagt, sind auch früher schon nicht flott gewesen. Und so wie er seinem Gegenüber die Hand auf die Schulter legt, hat die noch nie Vertrauen geschenkt. Vom großen Gewinn hat er immer nur geträumt. Sich und seiner Familie den Erfolg von Anfang an nur vorgespielt. Aber jetzt, wo das Alter nach ihm greift und ihm die Glieder verzieht, ist er erschöpft von seinem Falschspiel. Sucht er zu Hause nach Halt in alten Gesten. Mit der rechten Daumenkuppe kratzt er die Küchentischkante entlang, aber da ist nichts mehr. Aller Lack ist ab, nur das eigene, rohe Versagen übrig geblieben. Die linke Faust versucht er noch einmal in die Hüfte zu stemmen, im spitzen Winkel, so wie er es sich früher von den Erfolgreichen abgeschaut hat, aber seine Hüfte knickt ihm jetzt weg, lässt ihn schief dastehen und alle Stellung verlieren.
Matthes spielt seine Rolle nicht auf ihre Profession, er spielt sie auf ihren Namen hin: Er ist Willy „Loman“ – „der kleine Mann“. Klein im Sinne von gemütsverletzlich und statusängstlich. Nichts fürchtet er so wie die Demütigung, die es bedeutet, einen Namen zu tragen, der seinen Wert verloren hat. Nicht mehr gegrüßt zu werden. Verlacht und ausgesondert zu sein. So zu leben, dass man „sich das Genick brechen muss, um ein paar Sterne zu sehen“.
In der berührendsten Szene dieses an kluger Rührung reichen Berliner Theaterabends bittet der alte Loman seinen jungen Chef um Gnade. Nach sechsunddreißig Arbeitsjahren fleht er den an, dem er als Kind das Fahrradfahren beigebracht hat, nicht mehr Tausende von Kilometern fahren zu müssen, sondern für ein geringes Entgelt in der Stadt arbeiten zu können. Er beugt das Knie, bittet demütig, aber – „Geschäft ist Geschäft“ – der junge Vorgesetzte setzt ihn rabiat vor die Tür. „Du kannst die Zitrone nicht auspressen und dann die Schale wegschmeißen“, ruft Loman mit gebrochener Stimme und Entsetzen in den glühenden Augen. Mit seinen schwachen Fäusten trommelt er gegen die harte Brust. Aber es nützt alles nichts. Er, der sich immer davor gefürchtet hat, ausgelacht und bedauert zu werden, muss nun bei seinem Nachbarn betteln gehen, damit er wenigstens seine Lebensversicherung bezahlen kann. Die Schande lässt sich nicht mehr verbergen. Auch nicht vor seinen Söhnen, Biff und Happy, die jede Achtung vor ihm verloren haben, ihn nervös anbrüllen und sich achtlos über ihn erheben: „Sein Name war nie eine Schlagzeile wert“, flüstern sie und verleugnen ihn im Beisein hübscher Mädchen: „Das ist nicht unser Vater, das ist nur irgendein Typ.“
Gedemütigt fasst Loman einen Entschluss: Allein sein Tod ist noch etwas (nämlich: Versicherungsgeld) wert. Ein paar Blumensamen bringt er unter die Erde, dann verabschiedet er sich mit einem belanglosen „Pst“ und verschwindet dorthin, von wo er vor gut eineinhalb Stunden gekommen ist. Für einen Moment bleibt sein Schatten noch an der Wand sichtbar, genießt den Sieg über seinen Träger. Dann geht das Licht aus, und für ein anderes Leben beginnt der Niedergang.
Deutsches Theater Berlin : „Tod eines Handlungsreisenden“
Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“, 1949 erschienen, ist im Grunde ein Stück nur für einen Mann. Alle psychologische Beschreibungskraft konzentriert sich auf Willy Loman, die Nebenfiguren bleiben unscharf und ohne Dimension. Vor allem die Frauen sind hier denkbar einfach gestrickte Wesen, wollen entweder wie Lomans Frau Linda (aus der undankbaren Rolle das Denkbare herausholend: Olivia Grigolli) dauernd „ins Bett gehen“ oder lassen sich von einem Glas Champagner die ganze Abendplanung umwerfen. Einzig die beiden Söhne könnten mit ihrer unbändigen Hoffnungslosigkeit ein dramaturgisches Gegengewicht zum Vater sein. Aber unter Bastian Krafts Regie hält sich auch ihre Verzweiflung so vornehm zurück, dass sie ihm nicht wirklich gefährlich werden können. Benjamin Lillie als Biff trägt zwar stolz ein weißes „Wife-Beater-Shirt“, aber was nützt schon ein Hemd ohne die dazugehörige Haltung? Die voraussetzungslose Kraftlosigkeit der Millennials, von der er und sein Bruder Happy (Camill Jammal) befallen scheinen, sorgt hier nicht für Aufmerksamkeit. Ihre Verachtung unterläuft ihnen wie nebenbei. Und auch ihr Zorn gegen den Vater mutet nur an wie ein hilfloser Vorwand.
Es ist eine ganz und gar auf Ulrich Matthes maßgeschneiderte Inszenierung, die man an diesem Abend im Deutschen Theater zu sehen bekommt. Klugerweise verzichtet Bastian Kraft auf jegliche Form der Ironisierung oder Ideologisierung des Stoffes und verlässt sich ganz auf die psychologische Suggestivkraft seines Hauptdarstellers. Für ihn und sein facettenreiches Verzweiflungsspiel hat er die Bühne leergeräumt, alle Ausstattung und Regieeinfälle auf das Wesentliche reduziert. Nur eine Lampe baumelt wie ein Galgenstrick über Matthes’ Kopf. Ansonsten ist er auf weiter Flur allein mit der großen Anstrengung, die ihn sein Leben kostet.
An der weißen, rund umschließenden Bühnenwand werden ab und zu Traumbilder und Visionen als Schattenspiele projiziert und mit Musik unterlegt. Sonst läuft alles sehr ruhig und konzentriert auf sein gefühlskluges Spiel hinaus. Es ist ein Spiel mit hohem Einsatz und großer Wirkung: Denn die Demütigung, die er erfährt, und die Verzweiflung, an der er leidet, kennen kein Datum. Sie rühren über Zeiten und Gesellschaftsordnungen hinweg. Loman ist keiner von gestern und keiner von heute. Er ist allgegenwärtig. Das ist seine ganze Tragik. Und – verkörpert von Ulrich Matthes – unser großes Zuschauerglück.