„4.48 Psychose“ in Berlin : Auf den Gipfeln der Verzweiflung
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Auf dem Rollband dem Unheil entgegen: Elias Arens, Jürgen Lehmann, Toni Jessen, Justus Pfankuch, Thorsten Hierse, Yannik Stöbener Bild: Arno Declair
Quälender Bann auf düsteren Schicksalswegen: Ulrich Rasche inszeniert „4.48 Psychose“ von Sarah Kane am Deutschen Theater in Berlin mit Katja Bürkle.
In die bedrohliche Finsternis hinein fahren zwei Strahler. Lang und schmal stehen sie nebeneinander wie zierliche Torpfeiler, rahmen die dunkle Leere, werfen gleißendes Licht. Durch sie hindurch schiebt sich langsam ein kriechendes Laufband, ummantelte Stahlseile ziehen es nach vorne und verschwinden leise stöhnend in kleinen Löchern auf der Vorderbühne. Wie zum Schleppdienst versklavte Schlangen sehen sie aus, die das Unheil hervorzerren aus den Tiefen des bösen Bewusstseins. Eine Frau erscheint, setzt den einen Fuß bestimmt vor den anderen, hält sich angespannt aufrecht gegen den widerstrebenden Untergrund. Ihre Hände, die sie dicht an der hautfarbenen Kleidung hält, zittern leicht, ihr Blick ist starr, ausdruckslos, konzentriert, als schaue sie einem Gegner ins Auge. Einem letzten, lebensgefährlichen Feind. Aus dem düsteren Nebel hervor tritt ein Mann neben sie, mit großen Händen und einem bewegten Oberkörper. Im kraftvollen Rhythmus läuft er gegen das Band und beginnt diesen düsteren Theaterabend mit einer markerschütternden Mahnung: „Aber Sie haben doch Freunde!“
Als Sarah Kane sich am 20. Februar 1999 im Alter von erst 28 Jahren das Leben nahm, hatte sie die Arbeit an „4.48 Psychose“ gerade abgeschlossen. Das Stück über eine junge depressive, von Psychopharmaka abhängige Frau, die frühmorgens um 4.48 Uhr wachliegt und verzweifelt versucht, ihre Gedanken zu ordnen, wird als eine Art Abschiedsbrief gelesen, den ein verletztes Gemüt ihrer mörderischen Umwelt hinterließ. „4.48“, damit ist jene Zeit markiert, in der sich laut Hirnforschung die Schmerzen für den Menschen am schlimmsten anfühlen, die Verzweiflungsanfälle am heftigsten sind – und in der statistisch gesehen die meisten Suizide geschehen.
Individuum im Überlebenskampf
Ulrich Rasche, sicher der Formentschiedenste unter den derzeitigen Regisseuren, teilt Kanes strukturlos, in Collagefetzen angeordneten Text unter einem neunköpfigen Ensemble auf und lässt es dabei gegen drehende Laufbänder antreten. Seine inzwischen verbraucht geglaubte Monumentalmetapher auf die mechanische Grausamkeit unserer Gesellschaft erlangt hier, in seiner ersten Arbeit am Deutschen Theater, noch einmal eine neue Wirkungsebene. Gerade weil er die Maschinerie dieses Mal nicht zu sehr ins Zentrum stellt und auf die effektvolle Behauptung von technischer Totalität verzichtet, richtet sich der inszenatorische Schwerpunkt auf das Individuum im Überlebenskampf gegen die schwarzen Zugkräfte. Im Grunde verbildlichen die Laufbänder hier nichts anderes als das: die unerbittliche Zerstörungsgewalt unseres wahnhaften Geistes, gegen die sich kein noch so gestählter Körper behaupten kann.
Unterlegt ist die monotone Bewegung von einer live eingespielten Musik, die dem ständig vortretenden Ensemble mit Xylophon oder Paukenschlag den Takt vorgibt. Die ersten anderthalb Stunden wirken nach dem ersten, stets von neuem überwältigenden Eindruck allerdings etwas spannungslos, fast schon routiniert. Immer wieder treten die sechs Schauspieler und drei Schauspielerinnen in verschiedenen Konstellationen auf und pressen ihre Sätze in jener manieriert rhythmisierten Kunstsprache hervor, die Rasche neben den laufenden Drehbühnen zu seinem Markenzeichen gemacht hat. Nicht immer bietet das den richtige Halt für Kanes punkig-aggressiven Ausdruck: Umgangssprachliche Floskeln wie „absoluter Versager“, „scheißtief“ oder „objektive Realität“ bekommen durch die pointierte Betonung eine zu große Weihe, werden zu pathetischen Schicksalssignalen erhöht, obwohl sie eigentlich nur dumpfe Wut ausdrücken wollen.