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Max Reger (1873 bis 1916) Bild: Picture Alliance

150. Geburtstag Max Regers : Musik von geistiger Gefräßigkeit

  • -Aktualisiert am

Kontrapunkt und Koteletts: Max Reger stopfte alles in sich oder seine Musik hinein. Deshalb ist sein Werk so gehaltvoll. Es lohnt sich. Eine Hommage zum 150. Geburtstag des Komponisten.

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          Warum sollte man heute noch Max Regers Musik hören? Sie ist komplex, die meisten Stücke sind viel zu lang. Oft klingt es so, als lägen zwei oder gar mehr Partituren übereinander. Wer Gustav Mahlers Musik für hörfordernd hält, wird Regers Musik überfordernd finden: Beide komponierten um 1900, doch während Mahler sich auf den sinkenden Stern der Sinfonik konzentrierte, bediente Reger beinahe alles, vom Orgelwerk bis zum Lied, von Chorsymphonik bis zum Streichquartett. Alles viel zu groß, zu gewichtig. In beschleunigten Zeiten, die von Kurzmitteilungen und sinkenden Aufmerksamkeitsspannen geprägt sind, scheint es mehr als unpopulär, sich in der Freizeit derart anzustrengen. Chillen kann man bei Regers Musik nicht, sie steht nicht für Achtsamkeit, sondern Aufmerksamkeit. Was hat man also davon?

          Die Antwort wird kaum überraschen: Die Aufmerksamkeit lohnt sich, weniger als hörsportliche Herausforderung, sozusagen Gehörtraining als Gehirntraining, sondern durchaus modern und damit effizient gedacht. Denn kein anderer Komponist um 1900 versammelt in seiner Musik die letzten zweihundert Jahre Musikgeschichte. Da ist alles drin: hochkomplexer Kontrapunkt à la Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händels choralische Expression, die romantische Klangseligkeit Felix Mendelssohns. Überhaupt schreibt Reger die mit Abstand schönsten langsamen Sätze in der Geschichte der Kammermusik, allein diese sind eine Entdeckung wert. Expressionistisches kann man in Regers Musik ebenso finden wie Impressionistisches, Neobarockes steht neben Neoklassischem.

          Für die Wiederentdeckung Joseph von Eichendorffs steht Reger ebenso, etwa in dem grandios-packenden „Einsiedler“ op. 144 a, wie für eine Mozart-Begeisterung, die in den „Mozart-Variationen“ op. 132 ihr Klang gewordenes Denkmal erhalten hat. Hier darf Mozart jener schwelgerische Romantiker sein, den ihm die Musikgeschichte zu oft hat absprechen wollen.

          Trost in kriegsgeschüttelten Zeiten

          Und in allem wohnt Ludwig van Beethoven, sei es in der Dehnung der Form, der Doppelbödigkeit der harmonischen Progression oder in der aufstampfenden, bebenden Thematik: Reger kann auch das, Reger kann überhaupt alles. Fazit: Wer also aus Selbstoptimierungsgründen keine Lust oder keine Zeit hat, alles von Bach bis Mahler zu hören, der greife zu Regers Musik als Summa modernen Komponierens. Hier wird Musikgeschichte nicht überwunden oder revolutioniert, sondern zusammengefasst, vereinnahmt, gleichsam maßlos gefressen, vielleicht so, wie der Oberpfälzer Reger auch Koteletts, Bier und Zigarren konsumierte.

          Aber es gibt noch eine andere Facette, die Grund sein mag, seine Musik neu zu hören. Fast die gesamte Zeit seines kurzen Lebens und Schaffens – Reger wurde nur 43 Jahre alt – saß er tief über ein Notenblatt gebeugt und bekam von der Welt da draußen wenig mit. Aber in dem Moment, in dem es ernst wird und 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, ist er sofort affiziert. Er macht sich Gedanken, wie er die Irritation an der Welt in Musik setzen kann, wie er Position beziehen, seine Stimme als Künstler erheben kann.

          Die Werke, die in dieser Zeit entstehen, wie das Requiem op. 144 b auf einen Text von Friedrich Hebbel oder das unvollendete Lateinische Requiem, das er den gefallenen Soldaten widmen wollte, sind keine hurrapatriotischen Triumphmusiken, sondern tröstende Dokumente einer tief empfundenen Weltenangst. Reger, der schon im Wehrdienst litt und scheiterte, gehörte 1914 zu den wenigen Intellektuellen, die nicht begeistert Fahnen schwenkten. Selbst in seiner „Vaterländischen Ouvertüre“ op. 140, die durchaus patriotische Züge hat, biegen sich die zitierten Volkslieder zu melodischen Fragezeichen, ehedem martialische Choräle verstricken sich im vielfachen Kontrapunkt bis zur Unhörbarkeit. Hier schrieb die Angst mit, was werden, ob das Zuhause nach dem Krieg noch existieren wird.

          Reger, der diesen Sonntag, am 19. März, vor 150 Jahren geboren wurde, verstarb schon 1916 und erlebte das Kriegsende nicht mehr. Seine späte Musik bietet aber noch immer Trost, sie will ihre Mitmenschen umarmen und helfen, gerade auch in schweren, kriegsgeschüttelten Zeiten. Und sie kann ein Zeichen sein, für jene Künstler, die noch schwanken, wie sie sich zum Krieg verhalten sollen.

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