„Don Carlos“ in Stuttgart : Einmal nicht mehr Sohn sein
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Schwieriges Geschäft, die Stiefmutter zu begehren: Frida-Lovisa Hamann als Elisabeth von Valois und Felix Strobel als Carlos Bild: Thomas Aurin
David Bösch inszeniert in Stuttgart Friedrich Schillers „Don Carlos“. Zwar legt er die Schwächen der Vorlage frei. Aber seine Figuren haben ein anderes Problem.
Dreiundzwanzig Jahre ist er alt und hat noch nichts für seine Unsterblichkeit getan. Wenn Don Karlos, der spanische Kronprinz, Reden schwingt, geht es ziemlich großartig zu. Ihn „ruft die Weltgeschichte“. Es gibt kein größeres Leid als seines auf der Erde. Alles in ihm und um ihn ist entweder himmlisch oder höllisch. Ständig ruft er die Menschheit an. Ständig sagt er auch „O“: O wer weiß; O, zu gut; O ihr guten Geister; O, du bists!; O, jetzt ist alles wieder gut; O, der Einfall war kindisch; O, wenn es eintrifft, was mein Herz mir sagt, O, zögre nicht; und natürlich: O Gott! Sowie O Roderich. Das sind jetzt nur die Os von Don Karlos während der ersten zwei Auftritte von Schillers Drama.
In seiner Stuttgarter Inszenierung durch David Bösch beginnt die Geschichte des Karlos allerdings weniger großartig und auch nicht mit dem berühmten Eingang „Die schönen Tage in Aranjuez / Sind nun zu Ende“, der bei Schiller die Szene in den königlichen Gärten eröffnet. Bei Bösch tritt Don Karlos stattdessen an den Bühnenrand und sagt: „Ich habe sehr viel Unglück mit meinen Müttern“, was die ersten berechtigten Lacher des Publikums auslöst. Wie viele Mütter kann man haben?
Derlei Patchwork ist ein Problem
Don Karlos ist also auf Unsterblichkeit aus und zugleich ein Müttersohn. Er hat zwei. Die leibliche ist bei seiner Geburt gestorben, in die französische Stiefmutter Elisabeth von Valois war er verliebt, bevor sein Vater sie zur Ehefrau nahm. Derlei Patchwork ist natürlich ein Problem, und das Trauerspiel nimmt seinen Lauf. Elisabeth liebt Karlos nämlich auch, der Gatte Philipp ist ein Tyrann, der das nicht nur aus katholischen Gründen nicht duldet, seinerseits aber einer Hofdame nachstellt, die wiederum vergeblich Karlos liebt, dessen Freund, dem Marquis von Posa, jenem Roderich, die Befreiung von Flandern von spanischer Herrschaft vorschwebt, wozu wiederum der gern hart durchgreifende Herzog von Alba, die katholische Kirche und der Monarch nicht die geringste Neigung verspüren.
Wir haben also ein Familiendrama (Sohn liebt Stiefmutter und wäre auch darum lieber kein Sohn), ein Herrschaftsdrama (Wer sagt dem Chef die Wahrheit über die Gattin?), ein polit-theologisches Drama (Ist der Mensch schlecht und muss also unterdrückt werden, oder ist er eine Zukunftshoffnung?) und ein höfisches Drama (Wie intrigiert man unter diesen unübersichtlichen Umständen am besten zugunsten von Flandern oder Madrid?).
David Bösch entscheidet sich für das Familiendrama. Seinen Protagonisten fehlt jede höfische Spannung, der Großinquisitor kommt aus dem Off, das Kreuz ist nur Kulisse, im Drama trägt es niemand. Die Schauspieler laufen über die weitgehend leere Bühne wie über einen Schulhof oder einen Bürgersteig. Eine Choreographie gibt es nicht. Schillers Jamben werden nachlässig gesprochen.
Vor allem Felix Strobel als Don Karlos mit geschminkten Augen berlinert – „Jetzt isser endlich da“ – ungehemmt drauflos. Matthias Leja als König von Spanien sieht in Rollkragen und Glitzeranzug aus wie ein Insasse der Kreativwirtschaft, der Marquis von Posa hat seine Haare blond gefärbt, vermutlich aus Sympathie zu Flandern, und wirkt bei David Müller wie der Pressesprecher einer Bewegung für historischen Fortschritt, der auf seine Formulierungskünste schon sehr stolz ist.
Der Staat, eine Kleinfamilie mit Anhang
Das adlige Personal wird auf zwei Bösewichte heruntergekürzt: Alba und Domingo, der Beichtvater, die deshalb auch den Text aufsagen müssen, den Schiller anderen Höflingen zugedacht hatte. Dem Priester, dargestellt von Reinhard Mahlberg, fehlt jede Schärfe, er könnte auch bei der Kreissparkasse angestellt sein. Von den Hofdamen hat dramaturgisch nur die Prinzessin von Eboli überlebt, ein staksiges, formloses Häuflein Elend bei Katharina Hauter.
Der Staat ist also auf eine Kleinfamilie mit Anhang zurückgestutzt. Kein Hauch von Hobbes noch Schmitt weht durch Madrid und seine Kabinette. Dem folgt die unernste Anlage des Titelhelden. In Stuttgart interessiert er sich einen feuchten Kehricht für Flandern, sondern nur für die Stiefmutter. Er ist kein Held, in seinem Liebensunglück schmeißt er sich weinerlich ins Sofa und zeigt schon durch die kurzen Federn an seinem Kragen, dass er niemals politisch fliegen wird.
Das alles hat leider auch zur Folge, dass niemand verstehen kann, wie sich Frida-Lovisa Hamann als Elisabeth von Valois jemals in diesen larmoyanten Sprüchemacher vom Pausenhof der Karlsschule hat verlieben können. Hier gibt es einen merklichen Bruch in der Inszenierung. Bei Schiller ist Don Karlos ein Möchtegernheld, der durch seine jambisch beflügelte Rhetorik Leidenschaft zu entfachen sucht. In Stuttgart ist er nur noch ein Stenz aus der Disco.
Diese Depotenzierung erleiden auch andere Figuren. Das intrigante Duo aus Beichtvater und Herzog Alba entbehrt jedes niederträchtigen Zugs, es wirkt nachgerade gemütlich. Philipp dem Zweiten nimmt man nicht ab, dass er über ein Imperium herrscht, er hat ja nicht einmal sich selbst im Griff. Und die Vision einer Revolution, die der Marquis von Posa im Blick hat, verliert an Kraft, wenn sie gegen so wenig bösartig wirkenden Sprecher der Herrschaft gerichtet erscheint.
Kein Pathos genehmigt
Damit legt die Inszenierung Schwächen ihrer Vorlage frei. Schon bei Schiller zerfallen Staats- und Liebesaktion. Das Drama ist durchwirkt mit Jungsphantasien: von der Eroberung der jungen Königin – die historische Gattin des Herzogs von Württemberg hatte ihn ihr „Papale“ genannt –, vom Staatsschülerstreich, von der Solidarität mit Holländern. Schiller überformte so einen höfischen Stoff mit bürgerlichen Motiven: der Anklage gegen den lieblosen Vater, dem Hass auf ihn aus Mutterliebe, der Naturschwärmerei der Herrscherin, dem Wunsch vieler Beteiligter, den Idealen ihrer Jugendzeit zu leben, der Lust am Verstoß gegen die väterlichen Normen. Und der Marquis von Posa ist kein spanischer Politiker, sondern ein deutscher Idealist. Sein Aufstand fällt sofort in sich zusammen. Folgerichtig wird Don Karlos bei Schiller auch, anders als in Stuttgart, nicht erschossen, als sei er gefährlich, sondern der inquisitorischen Therapie überantwortet.
Haben wir also einen starken oder einen schwachen Theaterabend gesehen? David Bösch hat das Stück jedenfalls nicht von seinen Stärken her gedeutet. Er genehmigt den Figuren nicht das Pathos, mit dem Schiller sie sprachlich aufgeladen hat. Wir sehen nur lauter von sich selbst Überforderte. An Befreiung und Fortschritt wird hier so wenig mehr geglaubt wie an Ordnung und Herrschaft. Auf den berühmtesten Satz des Stückes, „Geben Sie Gedankenfreiheit“, hat Karl Kraus einmal geantwortet: „Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch Gedanken“. Das Problem der Stuttgarter Inszenierung ist der Mangel daran.