Ultraschall-Festival : Solo für Rumpelstilzchen
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Sarah Maria Sun singt im Heimathafen Neukölln, begleitet von Nina Janßen-Deinzer (nicht im Bild) am 22. Januar 2021 Bild: : Deutschlandradio - Simon Detel
Ultraschall, das Festival für neue Musik, bleibt auch im Radio ein Faszinosum: Es feiert die menschliche Stimme in ihrer Pracht und entdeckt eine verschüttete Sprache in ihrer ganzen Wucht.
Musik wie ein Vers des mährischen Dichters Jan Skácel: „alles schmerzt sich einmal durch bis auf den eigenen grund“. Das Violoncello ächzt wie der Strick eines Lasttiers am Balken einer Tretmühle. Kreisender Klang, der sich entfernt und näher kommt bis zu der Stelle, wo er sich abschrammt an einem herzlosen Gegenüber, sich wund reibt, wieder und wieder, tiefer und tiefer mit jeder Runde. Pulsierendes Brennen, anwachsend in immer weiter gespreizten Doppelgriffen. Skácel setzt fort: „und die angst vergeht“. Aber in dem Stück von Séverine Ballon, das sie selbst auch spielt, vergeht keine Angst. Die Musik bricht zusammen vor Erschöpfung. Ihr geht die Luft aus in letzten Flageoletts des Erstickens, dann überlässt sie sich, entkräftet, einer täuschend tröstlichen Stille.
„Novembre 2020“ hat die Komponistin und Cellistin dieses Stück übertitelt: Das steht für den Beginn des zweiten Lockdowns im Kulturbetrieb Deutschlands. Das Stück ist nicht laut, nicht plakativ, eher von zarter, aber suggestiver Phantasie. Titel und Gestalt spielen sinnfällig zusammen; was man hören kann, wird eindringlich bleiben noch dann, wenn man über den Anlass nicht mehr viel zu sagen hat. Ein Merkmal guter Kunst.
Das Konzert von Séverine Ballon stand am Ende der diesjährigen Ausgabe von Ultraschall, dem Festival für neue Musik, das seit 22 Jahren gemeinsam von Deutschlandfunk Kultur und dem Kulturradio des RBB in Berlin veranstaltet wird. In diesem Jahr wurde das Publikum der Pandemie wegen ausgesperrt; es konnte nicht zusehen, nur zuhören: im linearen Audio-Livestream. „Man nennt es auch ,Radio‘“, merkten die beiden künstlerischen Leiter Rainer Pöllmann und Andreas Göbel an, nicht ohne ein Grinsen über eine Selbstverständlichkeit, die plötzlich neues Gewicht bekommt.
Die zehn Konzerte in fünf Tagen, auf Kammerbesetzungen beschränkt, hinterließen in der Konzentration eher einen starken Eindruck. Natürlich gab es auch dieses Jahr wieder Stücke mit einem Überschuss an Reflexion zu Ungunsten der sinnlichen Erfahrung, ein Übergewicht an Technologie und Demonstrationseifer also, das in „Qu’est devenu ce bel œuil“ von Jannik Giger den ursprünglichen Gegenstand der Faszination – die Musik des Renaissancekomponisten Claude Le Jeune – völlig auszulöschen vermochte. Und es gab wieder Fälle, bei denen die Autoren der suggestiven Sinnlichkeit ihrer Musik nicht trauten und den Stücken Titel verpassten, die nichts aufschließen, sondern wiederum Erklärungen und Kommentare notwendig machen: darunter „spread in lobes like lichen on rock“ von Joshua Mastel (schöne Dunststudie mit Tropf- und Schmatzgeräuschen) oder „si callalo pudié sentirsas“ von Irene Galindo Quero (ein Parallelmonolog in origineller Fortschreibung europäischer Kirchhofromantik).
Die zu Klassikern der Gegenwart gewordenen Komponisten Wolfgang Rihm und Toshio Hosokawa zeigen da eine ganz andere Souveränität im Vertrauen auf die Schlichtheit solcher Titel wie „Zu singen“ (nach Hölderlins „Mnemosyne“) oder „Three Love Songs“ (nach Gedichten der japanischen Lyrikerin Izumi Shikibu aus dem zehnten Jahrhundert). Und beide folgen in einer heutzutage altmodisch gewordenen Achtsamkeit dem Sinnversprechen der vertonten Texte, das sich im Gesang erfüllen soll.