Beethovens Streichquartette : Altersweise? Von wegen!
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Pariert Beethovens Geschwindigkeitsrausch mit ein paar Handstreichen – das Quatuor Ébène Bild: Julien Mignot
Daran werden sich alle anderen Ensembles die Zähne ausbeißen: Das Quatuor Ébène legt die neue Referenzaufnahme der Streichquartette Ludwig van Beethovens auf sieben CDs vor.
Noch nie waren wir so weit von unseren Gewohnheiten, unseren solistischen Bezugspunkten und auch von dem entfernt, was man von uns erwartet: in Afrika muss ein Streichquartett alles neu ersinnen, da gibt es keine ausgetretenen Pfade“ – so lesen wir im Reisetagebuch des Ébène-Quartetts über seine Station in Nairobi. Durch achtzehn Länder auf allen Kontinenten führte diese spektakuläre Beethoven-Tournee, die jetzt auf sieben CDs beim Label Erato dokumentiert ist. Und auch wenn das Beethoven-Jubiläum 2020 noch lange nicht vorbei ist, steht schon jetzt der Rang dieser Einspielung fest: als neue Referenzaufnahme, an der sich viele Ensembles in den nächsten fünfundzwanzig Jahren die Zähne ausbeißen können. Ähnlich wie im Jahr 1997 bei der Gesamtaufnahme aller Beethovenquartette mit dem amerikanischen Emerson-Quartett. Nur mit dem Unterschied, dass diese noch eine Studioproduktion der Deutschen Grammophon war, während es sich beim Ébène-Quartett um eine Mischung aus Konzert- und Probenmitschnitten handelt.
Der mitreisende Tonmeister Fabrice Planchat, ein wahrer Hexenmeister am Mischpult, destillierte dabei aus den akustisch so unterschiedlichen Sälen in Philadelphia, Wien, Tokio, São Paulo, Melbourne, Nairobi und Paris eine Art Beethoven-Idealklang, der den ohnehin schon süffig-sinnlichen Quartettklang mit einer räumlichen Aura umgibt. Planchats technische Überhöhung entspricht dabei vollkommen der musikalischen: So „weltlich“ diese Beethoven-Tournee organisatorisch verlief, so weltabgewandt sind die Musiker des Ébène-Quartetts, wenn sie vor den Mikrofonen sitzen. Da werden die teilweise erschütternden Erfahrungen mit Naturschutz, Besuchen in Schulen und Arbeit mit Jugendlichen aus Elendsvierteln zurückgestellt, dann geht es nur noch um Introspektion und Identifizierung mit Beethovens Musik.
Technische Perfektion, Homogenität, intellektueller Anspruch und emotionale Emphase verbinden sich hier in einer bisher noch nicht gehörten Intensität und Unbedingtheit. Der Verdacht liegt nahe, dass das Ébène-Quartett auf seiner Weltreise auch hin und wieder in Beethovens extraterrestrische Regionen gelangt ist, wo normalerweise kein Sterblicher hinkommt. Doch gerade auf jene Bereiche des Visionären, Unheimlichen, Schmerzhaften, des gänzlich Anders- und Einmaligseins zielt diese Interpretation ab, so dass sich die Musiker gelegentlich auch wunderten, warum das Publikum nicht gleich „Reißaus“ nahm. Etwa im Quartett op. 132, mit dem „Heiligen Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart“, neben der Cavatina aus op. 130 das Adagio aller Adagios. Und wenn dieser archaisch tönende Dankgesang ohnehin aus einer anderen Welt herüberweht, so wird er beim Ébène-Quartett durch die Zeit, die es sich dafür nimmt, zur neuen Hörerfahrung: über zwanzig Minuten, ein absoluter Rekord an Langsamkeit.
Tempel der Innerlichkeit
Zum Vergleich: Das Emerson-Quartett braucht fast achtzehn Minuten, während das Kuss-Quartett, das jetzt ebenfalls eine sehr respektable Gesamtaufnahme live aus der Suntory Hall in Tokio beim Label Rubicon herausgebracht hat, mit etwas über fünfzehn Minuten dabei ist. Doch erst durch die Zeitlupe der Ébènes können wir heute wieder ermessen, wie weit entfernt Beethoven von allen gewohnten Empfindungen und Konventionen gewesen sein muss.