Theaterpremiere in Berlin : Das verräterische Herz
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Was man sieht, ist nur ein Produkt sündiger Phantasie: Regina Zimmermann und Georgiy Kudrenko Bild: dpa
Das passende Stück zur Epidemie war schon seit drei Jahren in Planung: Der immer noch in Russland festgesetzte Kirill Sebrennikov inszeniert für Berlin eine Aktualisierung des „Decamerone“ von Boccaccio.
Als der russische Regisseur Kirill Serebrennikow vor drei Jahren beschloss, das „Decamerone“ am Deutschen Theater auf die Bühne zu bringen, hätte man Boccaccios Novellensammlung aus der Zeit der Pestepidemie von 1348 wohl als Metapher für ein Kunstrefugium in widrigem Umfeld verstanden. Dann wurde Serebrennikow der Unterschlagung staatlicher Fördermittel angeklagt und stand für anderthalb Jahre unter Hausarrest, so dass das Projekt verschoben werden musste. Inzwischen wurde der Hausarrest aufgehoben, nicht aber das Reiseverbot, doch um nicht länger zu warten, probten die Schauspieler des Deutschen Theaters kurzerhand mit Serebrennikow in Moskau und brachten die deutsch-russische Koproduktion just zum Ausbruch der Corona-Epidemie in Berlin heraus. In Moskau, wo die aus Deutschland heimkehrenden russischen Schauspieler sich auf eine zweiwöchige Quarantäne gefasst machen müssen, scherze man über Serebrennikows Sehergabe, verrät seine engste Mitarbeiterin Anna Schalaschowa, die selbst nicht weiß, was nun aus den Gastspielverpflichtungen und dem Repertoirebetrieb ihres Gogol-Centers wird.
Das Stück über das, was die Natur und vor allem die Liebe mit uns anstellt, ist von bezaubernder Komik, aber auch tieftraurig, poetisch und bekenntnishaft. Serebrennikow, der auch das Bühnenbild gestaltet hat, verlegt das Geschehen in ein Fitnessstudio für alle Altersgruppen. Die Idee mag ihm während seines Hausarrests gekommen sein, als er immerhin täglich das nahe seiner Wohnung gelegene Schwimmbad besuchen durfte. Es ist ein Bild dafür, dass die Übungen in Selbstkasteiung und Gebet, die bei Boccaccio noch als Schlüssel zur Unsterblichkeit galten, inzwischen abgelöst wurden von einer Religion der Fitness, die auf ihre Weise verspricht, mittels physischer Plagen das Leben länger und besser zu machen.
Abgelöst von einer Religion der Fitness
Aus den hundert Novellen hat Serebrennikow zehn ausgewählt, kondensiert und sie als Jahreszeitenzyklus angeordnet, der auch ein Lebenszyklus ist. Dass fünf deutsche Schauspieler deutsch sprechen und fünf russische russisch – übersetzt durch Übertitel und Leuchtschrift – vergegenwärtigt nebenher die kulturell oder klassenbedingten kommunikativen Abgründe zwischen Liebespartnern. So wird aus dem Stallknecht von König Agilulf aus der zweiten Novelle des dritten Tages in der Verkörperung durch den phänomenal wandelbaren Filipp Avdeyev ein slawischer Geflüchteter im Anorak, der mit seiner überbordenden Glut die mondän sich hinter einer Sonnenbrille verbergende Königin (als hintergründige Gesellschaftslöwin: Regine Zimmermann) in Ekstase versetzt.
Der erste, mit Frühling und Sommer überschriebene Teil zelebriert die Komödie der Erotik. Die Rolle der Geistlichen, von denen man sich bei Boccaccio führen und verführen lässt, wird bei Serebrennikow von Trainern und Pflegern übernommen. Dabei muss die gereifte Almut Zilcher, die eingangs fünf alte Damen schongymnastisch animiert, erleben, wie der Schönling Jeremy Mockridge, der sich strahlend auf dem Gummiball produziert, die Lebenskräfte der Seniorinnen im Nu auf Trab bringt. Zilcher gibt dann die unbefriedigte Gattin eines „Heiligen“ der sportlichen Selbstüberforderung. Marcel Kohler spielt ihn als entsinnlichten Selbstoptimierer, der sich, in Analogie zu seinem Urbild in der vierten Novelle des dritten Tages, an Turnseilen in Kruzifixposition aufhängen lässt. Dass der appetitliche Mockridge als ihn anfeuernder Guru ihm dadurch ähnliche Freuden beschert wie seiner Frau als Liebhaber, machen die rhythmischen Lustschreie, die Kohler und Zilcher intonieren, ohrenfällig.