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Uraufführung in Genf : Was Flucht heute heißt

  • -Aktualisiert am

Haydar (Kartal Karagedik) betrauert seinen erfrorenen Sohn. Bild: Gregory Batardon

Christian Jost hat aus dem Film „Reise der Hoffnung“ von Xavier Koller eine neue Oper gemacht. Die Uraufführung von „Voyage vers l'Espoir“ in Genf erschüttert – weil sie auf Politisierung verzichtet.

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          Der Stoff der neuen Oper „Voyage vers L’Espoir“ von Christian Jost ist aktuell. Das in Genf aus der Taufe gehobene Stück widmet sich der Migration. Die Uraufführung war eigentlich schon für 2020 geplant, musste aber pandemiebedingt verschoben werden. Das Libretto von Kata Wéber basiert auf dem gleichnamigen Film „Reise der Hoffnung“ (1990) von Xavier Koller, zu dem der Saxofonist Jan Garbarek Musik beitrug. Im Zentrum des erschütternden Flüchtlingsdramas steht eine alevitisch-kurdische Familie, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben ihr karges ländliches Dasein hinter sich lässt und versucht, ins gelobte Land der Schweiz zu gelangen. Die Geschichte lässt individuelle Leidenserfahrung und allgemeine Pro­blematik von Massenzuwanderung ohne Lösungsrezept aufeinanderprallen.

          Wie der Schweizer Filmregisseur Koller, dessen „Voyage“ 1991 einen Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielt und 2016 in restaurierter Fassung erneut in die Kinos kam, gibt auch Christian Jost in seiner zehnten Oper keine Antwort auf Fragen, die sich stellen, wenn bürokratische Strukturen mit Impulsen von Menschlichkeit kollidieren. Das Auftragswerk des Genfer Grand Théâtre endet offen. Es möchte für Leid sensibilisieren, aber keine politische Botschaft verkünden. Die Eheleute Haydar und Meryem brechen mit ihrem siebenjährigen Sohn Mehmet Ali auf und geraten in Mailand an skrupellose Schlepper. Auf gefährlichem Pfad über das Gebirge erfriert das Kind im Schneegestöber. Der Vater wird wegen illegaler Grenzüberschreitung und tödlicher Gefährdung eines Schutzbefohlenen verhaftet, die Familie zerbricht.

          Kornél Mundruczó verschränkt Film und Bühne

          Eindreiviertel Stunden ohne Pause dauert die Genfer Produktion, die das uralte Menschheitsthema just am Sitz der Internationalen Organisation für Migration und der europäischen Zen­trale der Vereinten Nationen auf die Bühne bringt. Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó entfaltet das tragische Geschehen in imposanten Bildern, die von der Verschränkung szenischer Aktionen und filmischer Elemente leben. Oft ist die Bühnenansicht mehrfach horizontal und vertikal geteilt. Raffiniert werden vorproduzierte Hintergrundsequenzen und live gefilmte Aufnahmen der Darsteller überblendet. Großen Anteil an der prallen Optik haben die realistischen Dekors und Kostüme von Monika Pormale.

          Zu Beginn vergegenwärtigen echte Maispflanzen im Vordergrund und dahinter die Projektion eines sanft im Wind wogenden Maisfelds die anatolische Heimat Haydars. Hinter ihrer Idylle lauern prekäre, durch archaische Traditionen geprägte Verhältnisse. Unaufdringlicher Einsatz der Drehbühne und die magischen Beleuchtungskünste von Felice Ross ermöglichen rasch wechselnde Blicke auf die Handlung. In einem veritablen Lastwagen fährt der sympathische Matteo bis vor an die Rampe und nimmt die im strömenden Regen marschierende Familie mit. An der Schweizer Grenze ist ohne Pässe freilich kein Durchkommen. In einer verrauchten Spelunke wartet der Landsmann Haci Baba, ein Mafioso-Mephisto übelster Sorte, der für Haydars letztes Geld das Paradies verspricht.

          Christian Jost schämt sich nicht für Tonalität

          Die konzise Reduktion von Kollers Filmhandlung in Josts Oper lässt Raum für wirkmächtiges Erzählen in Tönen. Die sinfonisch konzipierte Partitur fordert ein großes Orchester mit viel Schlagwerk. Atmosphärische Farben und bewegte, häufig rhythmisch durchpulste Klangflächen schaffen einen reichen, manchmal dissonant eingetrübten Soundtrack, der ohne falsche Scheu vor tonalen Elementen, melodischer Schönheit und psychologisierenden Gesten ausgebreitet wird. Quasi naturalistische Laute suggerieren Schiffshupen, Bremsgeräusche des Lastwagens oder Hundegebell. Die drei Akte sind durch starke instrumentale Zwischenspiele verbunden. Die Musik zum ersten ist eine Art Violinkonzert. Im zweiten Akt dominiert perkussive Hektik. Dem dritten verleihen zwei Trompeten, die sich virtuos umspielen, eine jenseitige Komponente. Hier kreist das akustische Roadmovie um Verheißung und Tod.

          Gabriel Feltz dirigiert das differenziert und tonschön spielende Orchestre de la Suisse Romande mit feinem Gespür für Josts Klangpalette. Leider bleiben die Gesangslinien dieser Partitur stellenweise zu blass, um der erzählten Geschichte genug vokales Rückgrat zu geben. Es gibt aber sehr berührende Duette und ein ergreifendes Terzett, in dem Mehmets Eltern einer helfenden Ärztin danken. Julieth Lozano in dieser Rolle sowie Kartal Karagedik als baritonal stabiler Vater und Rihab Chaieb als fabelhaft intonierende Meryem machen es zum sängerischen Höhepunkt der Aufführung. Ivan Thirion als Lkw-Fahrer, Denzil Delaere als Haci Baba und Omar Mancini als Bauer komplettieren das fabelhafte Ensemble.

          Als Jost vom Genfer Intendanten Aviel Cahn gefragt wurde, ob er sich vorstellen könne, das Sujet der „Voyage“ aufzugreifen, kannte er Kollers Film nicht. Dass dessen Anfangsszenen im bäuerlichen Hinterland von Kahramanmaraş gedreht worden sind, das im Fe­bruar von einem schrecklichen Erdbeben heimgesucht wurde, hat nun dem auf einer authentischen Begebenheit basierenden Plot vor der verspäteten Uraufführung unerwartet neue Aktualität verschafft. Aus jener Region war die Familie aufgebrochen, deren Schicksal der Film aufgreift. Am Ende der Oper wird Haydar verhört. Zuletzt wird er noch gefragt, warum er in die Schweiz kommen wollte? „Ich hatte gehofft . . .“, antwortet er apathisch und wird abgeführt. Der Beamte heftet das Protokoll in einen Ordner und stellt ihn akkurat zurück ins Regal. Für ihn ist der Fall erledigt, der Arbeitstag abgeleistet. Die Musik im Graben erlischt.

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