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„Wozzeck“ in Wien : Prekariat beim Faschingsball

  • -Aktualisiert am

Marie (Anja Kampe) trifft Wozzeck (Christian Gerhaher) ein letztes Mal. Bild: Michael Pöhn/Wiener Staatsoper

An der Wiener Staatsoper weiß der Regisseur Simon Stone nicht so recht, wo er mit Alban Bergs „Wozzeck“ hin will. Christian Gerhaher in der Titelrolle feilt vorbildlich am Text, aber man hört ihn kaum.

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          Die Ärmsten der Armen, die Verfolgten und Entrechteten gibt es noch immer. Nicht nur in Ländern der sogenannten Dritten Welt, sondern auch in der Europäischen Union. Erst vor wenigen Tagen war in Österreich vom Bundesverwaltungsgericht die Abschiebung eines in Wien als Tochter georgischer Asylanten geborenen Mädchens für rechtswidrig erklärt worden. Allzu häufig sind Schutzbedürftige also der Willkür jener Länder ausgeliefert, in die es sie meist unfreiwillig verschlug. Beschämend, dass Österreich dazuzählt.

          Mit analytischem Blick auf die Situation im restaurativen Großherzogtum Hessen wählte Georg Büchner gegen Ende seines kurzen Lebens den gedrillten, drangsalierten und zu fragwürdigen medizinischen Experimenten missbrauchten Soldaten Woyzeck als Hauptfigur seines gleichnamigen, unvollendet gebliebenen Dramas, das im Mord des verwirrten und verzweifelten Titelhelden an seiner Geliebten Marie kulminiert. Vom Schicksal des „Geringsten“, des schwächsten Glieds einer Gesellschaft, so Büchners Erwägung, könne man Rückschlüsse auf deren Allgemeinzustand ziehen. Und vielleicht Veränderungen erwirken, die der Dichter auch durch seine sozialpolitische Flugschrift „Der Hessische Landbote“ ähnlich mutig vorantrieb wie heutige Russen bei ihren Demonstrationen gegen das Terrorregime Putins.

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          Intensiviert wurde Büchners Dramenfragment durch Alban Berg in seiner Oper „Wozzeck“ (1922), in der die Not und das Leid des Soldaten durch die damals neue Zwölftontechnik expressiv zugespitzt werden. Mit einer Neuproduktion von Bergs präzise und knapp erzählter Oper will die Wiener Staatsoper angesichts der bedrohlichen Situation in Europa ein Zeichen setzen. Da unsere heutige Situation nicht mehr einem Militärstaat entspreche, so die Überlegung des Regisseurs Simon Stone, müsse die Handlung des „Wozzeck“ aktualisiert werden. So weit, so gut. Aber wer ist dann dieser Wozzeck, der sich ohne Gegenwehr rumschubsen und malträtieren lassen muss? Das bleibt vollkommen unklar.

          Wozzeck vor dem Arbeitsamt

          Mit dunkelbrauner Cordhose und beiger Jacke hastet Christian Gerhaher in der Titelpartie (Kostüme: Alice Babidge & Fauve Ryckebusch) wie in einem Versuchslabor durch weiß gekachelte Halbräume, die der Bühnenbildner Bob Cousins auf der kleinen Drehbühne vor einem schwarzen Rundhorizont in variierenden Ausstattungen kreisen lässt. Was der von einem Job zum anderen hetzende Wozzeck in einer Schlange vor dem Arbeitsamt zu suchen hat, bleibt ebenso rätselhaft wie sein Abstieg zu den Pennern in der Wiener U-Bahn-Station Simmering. Denn seine Dreizimmerwohnung mit Marie ist großzügig ausgestattet, mit Mikrowelle, E-Herd, Kühlschrank und großem Doppelbett.

          Völlig unschlüssig bleibt auch die Faszination Maries für den zum Polizisten verzwergten Tambourmajor, dem Stein des Anstoßes dieses Dramas. Denn der Sozialstatus des vor einem Würstelstand lungernden Beamten (Sean Panikkar) wirkt kaum attraktiver als jener Wozzecks. Geradezu zynisch erscheinen die Szenen in einem Fitnessstudio, das sich ein armer Schlucker wohl nie leisten könnte, und im Wirtshaus, in dem sich das Prekariat bei einem Faschingsball in aufwendigen Ganzkörperkostümen tummelt. Da fehlt jegliche Empathie für wahre Armut.

          Regie verflacht Sozialkritik

          Überdies gelingt es Stone nie klarzumachen, worin denn die Zwangssituation Wozzecks besteht. Wieso kann ihn ein Polizeihauptmann so unbehelligt traktieren? Jörg Schneider verleiht ihm zwar stimmlich eine helle und scharfe Diktion, doch bleibt diese Rolle in Stones Deutung letztlich ebenso Karikatur wie jene des Doktors, so profund der Bassbariton Dmitry Belosselskiy auch singt. Bei Büchner und Berg sind aber gerade diese beiden Figuren prototypische Repräsentanten eines Obrigkeitsstaats, dessen Gefährlichkeit bei Stone nie zu spüren ist. Das gegen Ende aus den Kachelräumen wuchernde Gras passt zu dieser Verharmlosung, durch die der Regisseur unterschlägt, wie zutreffend Büchners sozialkritische Diagnose heute noch ist.

          Leider lässt der Abend auch musikalisch viele Fragen offen. Zwar spielt das Wiener Staatsopernorchester unter der Leitung Philippe Jordans die kammermusikalischen Passagen mit weichem Wohlklang, in die explosionsartigen Eruptionen des Stücks mischen sich jedoch etliche Unstimmigkeiten. Vieles bleibt Stückwerk, eine schlüssige dramaturgische Linie dieses formal so konsequent aufgebauten Werks ist kaum erkennbar. Überdies lässt Jordan das Orchester oft viel zu laut spielen, sodass sogar die präsente und resolute Stimme von Anja Kampe als Marie manchmal untergeht. Das gilt erst recht für den großartigen Liedsänger Christian Gerhaher als Wozzeck, dessen Textdeutlichkeit wegen des Schallpegels oft vergebens bleibt.

          Erneut eine problematische Premiere, die umso bedauerlicher ist, weil der Staatsoperndirektor Bogdan Roščić mit Adolf Dresens schlüssig-abstrahierender Deutung des „Wozzeck“ eine der besten Inszenierungen des Hauses durch solch eine zeitgeistig-oberflächliche Produktion in den Orkus schickt.

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