Händel-Festspiele Göttingen : Ein Doppeldecker für Cleopatra
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Sophie Juncker als Cleopatra Bild: Frank Stefan Kimmel
Gelungen frech: George Petrou inszeniert und dirigiert „Cesare in Egitto“ bei den Händel-Festspielen in Göttingen.
Die Vergangenheit ist düster und verführerisch. Noch halb in Mullbinden gewickelt, schleppen sich untote Mumien über die Bühne; eine riesige Statue des Totengottes Anubis wacht über der Szene, eine Garde schwarzer hundsköpfiger Gestalten samt Anführer verbreitet gruftige Ungemütlichkeit. Aus einem Sarkophag steigt aber auch eine putzmuntere Dame, ihre Mumifizierung rückstandsfrei hinter sich lassend, ausgehfertig geschminkt und geschmückt. Schnell stellt sie sich als Cleopatra heraus. Mit ihrem Bruder Ptolomeo (beide sind ja noch Jugendliche) zofft sie sich heftig, und nicht etwa um den schicksten Streitwagen ihres verblichenen Vaters, sondern gleich um die Herrschaft über Ägypten. Keinem von beiden möchte man die Krone aufs Haupt gesetzt wissen, der schnippischen Tochter ebenso wenig wie dem ungestümen Sohn, der nicht weiß wohin mit seiner Energie, wild auf der Bühne herumstapft und seiner Brust, wenn nicht mit Starkstrom-Koloraturen, dann mit eruptiven Schreien Erleichterung verschafft. Schon macht man sich Gedanken über den Drogengebrauch im alten Ägypten.
Die Vergangenheit ist nicht nur düster und verführerisch, sie ist auch voller Komik, so lernt man bei George Petrou, dem neuen künstlerischen Leiter der Händel-Festspiele in Göttingen. Bei der Inszenierung von Georg Friedrich Händels Oper „Cesare in Egitto“ dirigiert er nicht nur, sondern führt auch Regie. Als Anmaßung muss man das nicht verstehen. Was Petrous Musizieren mit dem ungemein geschmeidigen Festspielorchester auszeichnet, das ist auch auf der Bühne zu erleben: Beherzter Zugriff, Ausgewogenheit von Detailfreude und weitem Atem, schließlich die Lust an stilistischer Freiheit. Mit Orientalismen in Musik und Szene spielt Petrou ebenso, wie er – so subtil vollzogen, dass man nur allmählich seinen Ohren nicht mehr traut – einen Nachbarschaftsbesuch beim Jazz wagt. Dann nämlich, als Cleopatras gewitzter Kammerdiener Nireno die Freuden spontan ausgelebter Liebe besingt. Hier öffnet sich der Abend plötzlich in Richtung Travestie, Nireno tanzt und steht bald im glitzernden Paillettenkleid da. Dass Rafał Tomkiewicz, der Sänger des Nireno, wegen eines positiven Corona-Tests kurzfristig nicht auftreten kann, ist jammerschade; dass der Regieassistent Alexander de Jong als glänzender Pantomime einspringt und Nicholas Tamagna, der Darsteller des Ptolomeo, vom Tablet lesend die Arie singt, ist mehr als eine Notlösung. Fast spielt de Jongs Pantomime in die Regieidee von George Petrou hinein, der seine Inszenierung in den 1920er-Jahren zur Großzeit der Ägyptenbegeisterung spielen lässt und gemeinsam mit Bühnenbildner und Ausstatter Paris Mexis opulente filmische Realität auf die Bühne bringt. Zum Stummfilm wird die Darstellung in Nirenos Rezitativen, die an diesem Abend ungesungen bleiben müssen.
Cesare, das ist in Göttingen ein Altertumsforscher im Stile des Tutanchamun-Entdeckers Howard Carter. Mit kolonialistischem Gestus betreibt er eine Archäologie, die eher Schatzsuche ist. Die Funde sollen den Entdecker loben und das Land, unter dessen Fahne er antritt. Von atemberaubender Herablassung ist dann auch dieser Archäologen-Cesare, der sich für seine Funde vor allem interessiert, wenn er sich mit ihnen fotografieren lässt; der sich im Weiteren aber mit der Vergangenheit auseinandersetzen muss, in die er eingedrungen ist – und mit den Waffen der Weiblichkeit, die ihn und seine Entourage leidlich dumm aussehen lassen. Zur Ernsthaftigkeit finden schließlich alle, die die Intrigen überleben und ihre Todesangst durchstanden haben. Antike und Moderne versöhnen sich im Geist des Fortschritts, wenn Cleopatra am Ende in Fliegermontur zu Cesare in den Doppeldecker steigt. Solche Versöhnung und Anverwandlung der Vergangenheit mag man auch allegorisch nehmen für ein Festival, das sich ganz der „alten Musik“ verschrieben hat.
Cesare wird von Countertenor Yuriy Mynenko gesungen mit melodiöser Kraft und virtuoser Eleganz. Dass Mynenko Ukrainer ist und mit einer Sondergenehmigung seines Landes auftritt, verschafft neue Perspektiven auf Händels Stück. Wenn Sesto, der Sohn des ermordeten Pompeo, um seine Ermannung ringt und den toten Vater ihm zuraunen hört: „Mein Sohn, von dir wird Härte erwartet“: Wer mag da nicht an die Diskussionen denken über die Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine? Katie Coventry singt diesen Sesto zwischen knabenhafter Zartheit und jugendlichem Gefühlstaumel, Sophie Junker ist eine stimmlich funkelnde Cleopatra, der die kapriziösen Seiten näherliegen als die tragischen Passagen; hier verliert ihre Stimme an Erdung und Sauberkeit der Intonation. Nicholas Tamagna bringt den Ptolomeo mit unermüdlicher Aufgekratztheit auf die Bühne, Riccardo Novaro ist ein bitterböser, nachtschwarzer Achilla.
Die freundliche Offenheit dieser Inszenierung nach vielen Seiten lässt sich programmatisch verstehen für ein Festival, das sich unter dem neuen Intendanten Jochen Schäfsmeier um neue Hörerkreise bemüht. Der Rückhalt in der Stadt für die Händel-Festspiele, die 1920 gegründet wurden, sei ungemein beeindruckend, berichtet Schäfsmeier, und doch müsse man sich darum bemühen, diesen Rückhalt auch für die Zukunft zu sichern. Die Festspiele orientieren sich deshalb verstärkt nach außen, nehmen neue Spielstätten ins Programm auf und bieten den Göttingern Händel rund um die Uhr: vom Orgelkonzert morgens bis zu den Auftritten abends. Jüngeres Publikum anzusprechen, das sei auch hier die große Herausforderung. Mit Petrous „Cesare“-Inszenierung sollte das gelingen, und auch das deutlich ältere Premierenpublikum ist nichts weniger als aus dem Häuschen.