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Cecilia Bartolis neues Album : Ihre Stimme vergoldet sogar russische Konsonantenklumpen

  • -Aktualisiert am

Cecilia Bartoli hat es wieder getan: Diesmal holte sie aus russischen Archiven musikalische Schätze ans Licht, die unseren Blick auf die Operngeschichte ändern werden.

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          Manchmal hat Cecilia Bartoli wirklich schrille Einfälle. Einmal fuhr sie mit einem Museumsbus voller Nippes über Land, um ihre Verehrung für die historische Sängerin Maria Malibran direkt weiterzureichen an die Bartoli-Fanmeilen. Ein andermal plantschte sie als Filmzitat in der Fontana di Trevi. Dann trat sie, zur Verzweiflung ihrer Plattenfirma, als kahlköpfiger Kleriker auf, um für Opernarien zu werben, die ein weithin unbekannter katholischer Titularbischof komponiert hatte. Und jetzt kommt sie daher als das, was sie wirklich ist: Diva. Hat sich in schneeweißen Hermelin gehüllt. Guckt wie Katharina die Große oder Marlene Dietrich oder Schiwagos Lara, melancholisch schweift der Blick über uns hinweg in die Unendlichkeit.

          Das neue Bartoli-Album, das in dieser Woche beim Label Decca herauskommt, macht bekannt mit zehn Arien, die vor zweihundertsechzig Jahren am russischen Zarenhof gesungen und anschließend vergessen wurden. Wieder einmal wird diese strahlende Mezzosopranistin, die bestbezahlte, tiefstverehrte unserer Tage, zur Anwältin einer Wiederentdeckung. Ob diese Musikstücke zu Recht oder zu Unrecht im Orkus versanken, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Die Frage wird übertönt vom schrillen Drumherum der Camouflagen, sie wird vom Tisch gefegt von Bartolis vulkanischem Temperament, sie wird vor allem aber gegenstandslos dank dieser charakteristischen, ausdrucksstarken, farbenfrohen Stimme, die so wandelbar ist und so unverwundbar erscheint.

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          Mehrmals sei sie zu Wasser und zu Lande nach Petersburg gereist, um diese Musikschätze zu heben, einmal sogar, behauptet Bartoli, auf einem Eisbrecher, von Lübeck aus, quer durch die Ostsee. Sollte das erfunden sein, so ist es gut erfunden. Seit ihren ersten Anfängen weigert sich diese Sängerin konsequent, in ein Flugzeug zu steigen. Auch darin ein Vorbild: Fliegen ist ungesund, es ist nicht ökologisch, und wenn sogar eine wie sie, die an allen Opernhäusern der Welt gefragt ist, das Jetsetten nicht nötig hat, wieso fliegt überhaupt noch jemand?

          Mit dem russischen Idiom

          In Sankt Petersburg stand die Bartoli zunächst vor verschlossenen Türen. Das Musikarchiv des Mariinski-Theaters war restaurierungshalber nicht zugänglich. Erst ein Machtwort des Musikzars Valery Gergiev schuf Abhilfe, ihn grüßt sie dankbar im Beiheft der Platte, und er grüßt sie zurück. Sogar Gergiev, sagt Bartoli, habe ja nicht die geringste Ahnung gehabt, was für Herrlichkeiten sein Haus hüte: „Die Geschichte der russischen Nationaloper begann für ihn mit Michail Glinka. Und so dachten wir ja eigentlich alle.

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          Dass es schon hundert Jahre vor Glinka Opern in russischer Sprache gab, davon wusste man vage, man kannte einige Komponistennamen, die Stücke kannte man nicht.“ Und wie kommt eine italienische Belcantosängerin mit dem russischen Idiom klar, mit all dem Konsonantengegurgel, den Zisch- und Rachenlauten? Bartoli lacht: „Genau diese Frage habe ich schon vor vielen Jahren Mirella Freni gestellt, die ich so sehr bewundert habe, gerade bei Tschaikowsky. Sie hat damals gesagt: ,Too difficult, but not impossible.‘ Ich kann jetzt bestätigen: Das stimmt!“

          Eine Digitalisierung der Notenbestände ist am Mariinski noch immer Zukunftsmusik. Drei Schnappschüsse im Booklet (die wir hier leider nicht veröffentlichen dürfen, denn alle offiziellen Bilder zum Album hat die Diva persönlich autorisiert) zeigen eine überglückliche Bartoli, wie sie in Karteikästen wühlt, Autographenkonvolute wälzt.

          Doppelalben könnte man damit füllen

          Sie hat reichlich Stoff zum Singen gefunden. Ganze Serien von Doppelalben könnte man damit füllen. Bartoli ist so angetan von den Fundstücken, dass sie auf ihrer Record-Release-Tournee, die am 22. Oktober in Berlin startet, so viel wie möglich davon unter die Leute bringen möchte. Bedeutet: Sie wird live keineswegs nur die zehn Titel singen, die auf dieses Achtzig-Minuten-Album passen. Und sie schließt auch nicht aus, dass weitere „Petersburg“-Alben folgen, sollte das erste Erfolg haben.

          Wie sollte es nicht? Gleich in der ersten Arie, „Vado a morir“, gibt es Gelegenheit, wieder einzutauchen in das köstliche Bartoli-Pianissimo. Keine sonst kultiviert diese Kunst, mit halber Stimme zu singen, mezza voce, so wie sie. „Vado a morir“ ist eine konventionelle Da-capo-Arie im Siciliano-Rhythmus, komponiert von Francesco Domenico Araia, dem aus Neapel stammenden Hofkomponisten von Zarin Anna Iwanowa. Kurz vor der Wiederholung des A-Teils, dann ein zweites Mal kurz vor Schluss, durchbricht Bartoli das gestanzte Schema und lässt zwei kurze Vokalisen aufblühen, wunderfeine, betörend bunt schillernde Fioriturenbögen. Auch in solchen Manierismen ist sie nach wie vor die Meisterin. Und die nächste Nummer bietet dann endlich Abschussrampen für ein zünftiges Bartolisches Koloraturenfeuerwerk.

          Es handelt sich um eine kriegerische Bravour-Arie aus der Oper „Herkules“, komponiert von einem gewissen Hermann Raupach, Cembalist aus Stralsund, der in Nachfolge Araias Hofkomponist der Zarin Elisabeth wurde. „Herkules“ ist eine der ersten Opern, die ein russischsprachiges Libretto haben. Charmant verknödelt Bartoli alle damit verbundenen „difficulties“ und gluckst und glänzt und jodelt um die Wette mit dem grobschlächtigen Naturtrompetengeschmetter, das vom Ensemble I Barocchisti unter Leitung von Diego Fasolis in kontrastscharfe Effekte überführt wird. Es folgen, im Wechsel, acht weitere Wut- oder Trauerarien, von Araia, Raupach sowie Vincenzo Manfredini und Domenico Cimarosa.

          Durchwegs italienische Arien

          Der Haken dabei ist: Es sind durchwegs italienische Arien. Auch die beiden, die auf russisch gesungen werden, sind Konfektion von der Stange: der Opernmode des frühen achtzehnten Jahrhunderts verhaftet, einem vorrevolutionären Zeitalter, in dem die italienische Vokal- und Instrumentalmusik stilistisch lingua franca war. Junge Komponisten aus ganz Europa reisten damals zur Ausbildung nach Italien. Und die italienische Oper wurde an alle Höfe Europas exportiert, mitsamt ihren Kastraten, Primadonnen, Komponisten, Librettisten, Violinisten und Cembalisten.

          Bartoli hätte also statt nach Petersburg ebenso gut nach Karlsruhe, Dresden, London oder Stockholm fahren können. Wie hätte sie sich dann wohl verkleidet? Nennenswerte nationale Unterschiede im musikalischen Stil gab es jedenfalls damals in der Oper noch nicht. Individuelle Unterschiede allerdings schon, aber eben nur dort, wo auch eine starke Begabung tonangebend war: etwa in Dresden, wo Johann Adolph Hasse wirkte, gebürtig aus Hamburg, ausgebildet in Italien; oder in London, wo Georg Friedrich Händel wirkte.

          Die feinen Zwischentöne

          Bartoli kennt das Problem. Aber sie plädiert entschieden dafür, die feinen Zwischentöne nicht unter den Tisch fallenzulassen: „Stimmt, in Händels italienischen Opern kann man die deutsche Seele heraushören. So ist es aber auch in den Opern von Araia, der so viele Jahre in Russland verbrachte. In seinen Melodien, die er für die Zarin schrieb, steckt eine tiefe Traurigkeit, eine Melancholie in dunklen Farben, die mit Italien nichts mehr zu tun hat.“

          Nur zwei Jahre lang diente Vincenzo Manfredini, Spross einer verzweigten Musikerfamilie aus Pistoia, als Opernkapellmeister am russischen Hof. Dann entließ ihn die rabiate Zarin Katharina und ersetzte ihn durch den ungleich berühmteren Kollegen Baldassare Galuppi. Aber immerhin sechs Opern hat Manfredini in diesem kurzen Zeitraum für Katharina die Große komponiert, und nicht zufällig studierte Bartoli gleich drei Manfredini-Nummern für ihr Album ein: zwei feurige Arien aus „Carlo Magno“ sowie einen Chor mit eingesprengten Soli aus der nämlichen Oper. Die würde man jetzt gern mal komplett kennenlernen. Denn schon in diesen Kostproben wird klar, dass man es mit einem interessanten Komponisten zu tun hat, der eine eigene dramatische Handschrift besitzt, harmonisch gewagte Lösungen ausprobiert, einfallsreich instrumentiert. Manfredini, sagt Bartoli, ist der avancierteste von allen: „Eine echte Entdeckung! Man wusste bisher so gut wie nichts über seine Musik“. Vielleicht, dass sie tatsächlich einmal eines Tages eine ganze Manfredini-Oper auf die Bühne stellen kann - in Salzburg, wo sie als künstlerische Leiterin der Pfingstfestspiele firmiert, gäbe es die Möglichkeiten dazu.

          Bartoli wäre nicht Bartoli, hätte sie nicht auch wieder ein paar irre Ulknummern versteckt in ihrem neuen Album. Katharina die Große wird, wie alle Zarinnen und Komponisten, nur einmal abgebildet im Booklet. Aber das Foto von dem phantastischen, mit Primärgeschlechtsmerkmalen reichverzierten Erotik-Tisch, der nachweislich nicht zum Mobiliar der großen Katharina gehörte (was in der Fußnote auch korrekt angemerkt wird), taucht immer wieder auf wie ein weißer Elefant. Und, implantiert ins finale Chorstück („A noi vivi, donna eccelsa“), singt Bartoli, erstmals öffentlich, ein Duettchen mit ihrer Mutter Silvana Bazzoni, einer Gesangspädagogin, bei der sie einst in die Lehre ging und der sie vieles, wenn nicht alles verdankt. Soll heißen: Grazie, Mamma!

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