Schlingensief-Filmpremiere : Das Leben, das Leben, das Leben
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Mit dem Beginn der Theaterferien endet an diesem Samstag die Ära Castorf an der Volksbühne. Bild: dpa
Die Berliner Volksbühne verabschiedet sich von Intendant Frank Castorf – und sagt mit Feiern und einer späten Christoph-Schlingensief-Filmpremiere adieu.
„Don’t look back“, wird jeder angeherrscht, der in diesen Tagen, kurz vor dem Ende der Castorf-Intendanz, die Berliner Volksbühne betritt: Endlos vervielfältigt, pflastert das Motto das Foyer. Nicht zurückschauen? Das geht nur mit Dialektik, und die konnte man in den letzten 25 Jahren an diesem Theater ja trainieren.
Vor vier Tagen erst ist der Schriftzug „OST“, der hoch auf dem Gebäude in die Stadt hinaus leuchtete, mitten im Großinquisitor-Monolog von Castorfs Karamasow-Inszenierung abmontiert worden. Auf der Wiese am Rosa-Luxemburg-Platz sind Schirme und kleine Zelte aufgestellt, und Pappkartons mit der Aufschrift „Geschichte – Kann weg“. In allen Räumen laufen Videos von alten Aufführungen, auf der großen Bühne eine letzte Vorstellung nach der anderen, und danach wehmütig-fröhliche Feiern in der Kantine bis in den frühen Morgen. In der Nacht vom Samstag auf Sonntag soll es ein rauschendes Straßenfest zum Abschied geben.
Und nun zwischen all den Dernièren noch mal eine Premiere: die Uraufführung eines Films, den Kathrin Krottenthaler aus Videoschnipseln Christoph Schlingensiefs zu seiner Aktion „Chance 2000“ von 1998 geschnitten hat. Der Andrang ist so groß, dass nach der ersten Vorstellung im Großen Haus noch eine zweite angesetzt wird. Nun schauen die Menschen im Saal auf einen Film, der ihnen denselben Saal zum Teil mit denselben Menschen zeigt, nur neunzehn Jahre früher. Das ruft nicht nur eine Erinnerung auf, sondern auch eine Frage: Was ist aus uns seither geworden? Und: Wie gegenwärtig ist das?
Eine herrlich indignierte Sabine Christiansen
„Chance 2000“ passt für ein Resümee besonders gut: Das war der Moment, als die Volksbühnengemeinde sich tatsächlich zur Bewegung formierte, sogar zu einer Partei, die zur Bundestagswahl zugelassen wurde, allerdings ohne Programm, wenn man vom Slogan „Wähle dich selbst“ absieht. Zu sehen ist kein Dokumentarfilm im etabliert-distanzierten Sinn, sondern eine Montage aus verwackeltem Eigenmaterial, versetzt mit Talkshowauftritten Schlingensiefs, unter anderem mit einer herrlich indignierten Sabine Christiansen. Das Improvisierte und Amateurhafte, das schon die Aktion selbst auszeichnete, gibt nun auch dem Film seine flatterhafte Unmittelbarkeit. Den herumwirbelnden Schlingensief bei der öffentlichen Verfertigung immer neuer, meist einander widersprechender Gedanken zu beobachten ist immer noch ein großes Vergnügen – wohl auch, weil er ständig die Spannung aufrechterhält, was hier Quatsch, was Ironie und was Ernst ist.
Dem Szenenbeifall nach zu urteilen würde sich das Publikum auch heute massenweise der Bewegung zur Verfügung stellen, und das täte es sicher nicht, wenn es sich bloß um eine jener lustigen oder klug ausgedachten Ideen handelte, mit denen Kulturstrategen Aufmerksamkeit zu erringen versuchen. Der Unterschied liegt darin, wie Schlingensief mit den Behinderten umging, die als Spitzenkandidaten seiner Partei fungierten: nicht betulich und kalkuliert, sondern mal streitlustig, mal zärtlich und immer rückhaltlos.
Das ist kein hipper Kulturkonservatismus
„Ich vermisse den Christoph“, sagt eine von ihnen, als nach der Vorführung die damals Beteiligten auf die Bühne kommen: „Er hat uns aufgeklärt, wie das Leben wirklich ist. Ich wünsche ihm alles Gute und einen guten Heimweg.“ Das hat mit dem hippen Kulturkonservativismus, den das Klischee dem Volksbühnen-Milieu unterstellt, nichts zu tun. Dass jetzt viele so bewegt sind, liegt an der Einsicht, dass das, was oberflächlich wie Radau oder Persiflage wirkt, eine diskrete Form dafür war, etwas Reales, wenn nicht sogar Inneres jenseits der üblichen Distinktionen auszudrücken.
„Ich werde immer gefragt, woher ich die Kraft nehme“, sagt Schlingensief fröhlich am Ende des Films im typischen Wahlkämpfermodus, und das wirkt erst mal natürlich sehr ironisch: „Weil ich an die Sache glaube. Und die Sache bin ich. Und du und du und du. Das Leben, das Leben, das Leben.“ Ein andermal fragt er in die Menge, warum wir so viel Spaß haben. Weil es uns so ernst ist.