Tanztag in Tempelhof : Ringelpiez an Rosinenbomber
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Vielfalt zeigen: Tanzender Beginn einer neuen Intendanten-Ära Bild: Imago
Boris Charmatz eröffnet mit einer Choreographie-Collage für Chris Dercon die neue Berliner Volksbühne. Ein Tag der offenen Tanztür. Mit gefalteten Papierhütchen, Strandmatten, Kinderschreien, Tupperware.
Es war ein schüchtern-schöner Tag. Die Sonne schien freundlich durch die Wolken, die Menschen schauten froh dem Sommer nach, und in Tempelhof wurde getanzt – zehn Stunden lang. Nicht auf dem heiß umkämpften „Feld“, wo Hunde keuchend mit ihren Haltern weite Runde ziehen, sondern am alten Flughafen, der seit 2008 ein Ort ohne Bestimmung ist. Durch die ehemalige Abflughalle, vorbei an Namen längst abgewickelter Fluggesellschaften und letzten Überresten von Telefonkabinen, strömte seit Mittag die interessierte Berliner Tanzszene. Unter Schildern hindurch, die baten, auf das Rauchen zu verzichten, hinaus aufs weite Vorfeld, wo früher die Flieger zum Stehen kamen. Heute steht hier nur noch einer, abgesperrt wie ein Museumsstück aus lang vergessener Zeit: ein Rosinenbomber vom Typ C-54, silbern lackiert, mit spitzer Nase und geschwungenen Propellern, zur Erinnerung daran, wie sehr die „Weltstadt“ Berlin einmal von der (westlichen) Welt abhing. Aber jetzt, siebzig Jahre später, scheint alles andersrum: Die Welt braucht diese Stadt so sehr, dass die sich leichtfertig abkehren kann von ihrer eigenen Geschichte.
Getanzt wurde jedenfalls den ganzen Tag mit dem Rücken zum alten Flieger, ohne Schulterblick, ohne Interesse für die Aura des Ortes. Der französische Choreographie-Collageur und Tänzer Boris Charmatz, der diesen Tanztag unter dem Motto „Fous de danse“ („Verrückt nach Tanz“) anleitete und kuratierte, hat selbst ein ganz eigenes historisches Interesse: Ihn fasziniert die internationale Geschichte des Tanzes: 2009 gründete er in Rennes das „Musée de la Danse“, ein Kollektiv, das in den choreographischen Stilepochen nach Anknüpfungspunkten für heutige Bewegungsformen sucht.
Ein Tag der offenen Tanztür
Unter diesem Motto stand auch das Programm des Tempelhofer Tanztages, der mit einem öffentlichen, von Charmatz charmant angeleiteten Aufwärmtraining begann. Kleinkinder, Omis und Profitänzer machten zusammen Bewegungen großer Tanzentwickler nach, schlugen auf Kommando die „Hexenhände“ von Mary Wigman über dem Kopf zusammen oder deuteten eine Ballettgeste von Balanchine an. Manche schieden bald überfordert aus, andere zuckten engagiert weiter, und der freundliche Monsieur Charmatz ging durch die Reihen und sagte immer wieder beruhigend: „It’s okay.“
Danach durfte das teilnehmende Publikum sich auf den warmen Asphalt knien und bei verschiedenen Kurzvorführungen zuschauen: einem Solo nach Isadora Duncan – getanzt von der elfjährigen Imane Alguimaret –, das Gesten von Arbeitern, Ausdrücke der Erschöpfung und des Auflehnens, zu einem Revolutionstanz verband; einer Duett-Choreographie von William Forsythe, bei der zwei Körper sich virtuos mit Kleinstbewegungen nach Halt abtasten; und der Rekonstruktion eines frühen minimalistischen Quartetts der amerikanischen Choreographin Lucinda Childs, bei dem vier Frauen in weißer Kleidung mit stillen, entschiedenen Gängen den Raum auslaufen, bis kein Asphaltzentimeter mehr unberührt ist.
Berlin-Tempelhof : Die Volksbühne bittet zum gemeinsamen Tanz
Neben den historischen Zitationen gab es auch Kostproben aus Berliner Tanzschulen zu sehen: Die Staatliche Ballettschule war (wegen des unwirtlichen Untergrunds allerdings in Jazz- statt Spitzenschuhen) mit einem Auszug aus „Der Kosar“ genauso vertreten wie die Flying Steps Academy, Berlins Hip-Hop-Kaderschmiede, mit einer Freestyle-Runde und das deutsch-türkische Dance Ensemble mit folkloristischen Volkstänzen. Dazwischen hüpften immer wieder auch mal Kindergruppen durch die Gegend, erfanden angeblich klassische Bühnenwerke, in Wahrheit aber wohl vor allem die Möglichkeiten der Förderpolitik neu; ein syrischer Tänzer riss sich die Kleider vom ausgemergelten Leib und stellte Motive der Kriegsfotografie nach, und wenig später wurde eine Stunde lang Funkmusik eingespielt, zu der sich wieder alle so frei bewegen durften, wie sie gerade konnten.