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Das dünne Eis der Wahrheit : Kästners „Fabian“ und Ibsens „Die Wildente“ auf Berliner Bühnen

  • -Aktualisiert am

Enthemmt: Sina Martens als Anwaltsgattin in „Fabian“ Bild: dpa

Im Berliner Ensemble inszeniert Frank Castorf fünf Stunden lang Kästners „Fabian“ mit viel Geschrei. Das Deutsche Theater zeigt hingegen eine spannende Adaption von Ibsens „Die Wildente“ unter der Regie von Stephan Kimmig.

          3 Min.

          Ein Mann von 32 Jahren fällt durch die Welt, weil er nichts in ihr findet, an dem er sich festhalten kann. Am Schluss springt er in einen Fluss, um ein Kind zu retten. Das Kind überlebt, der Mann ertrinkt. Denn er kann nicht schwimmen. Ein Mädchen von fast vierzehn Jahren fällt von der Welt ab, in die es nie kommen konnte, weil es von Lügen umgeben ist, die es nicht zu ihr durchlassen. Am Schluss setzt Hedvig alles auf eine Karte, um ihren Vater zu retten. Er überlebt, sie stirbt. Denn sie greift zur Waffe.

          Der idealistische Mann ist die Titelfigur in Erich Kästners Roman „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“, in verschiedenen Fassungen ab 1931 erschienen und erst 2013 in der ungekürzten Originalversion veröffentlicht. Die unglückliche Hedvig verübt Selbstmord in Henrik Ibsens Drama „Die Wildente“, das 1885 in Bergen uraufgeführt wurde. Im Berliner Ensemble ist nun zu sehen, wie sich der Regisseur Frank Castorf über fünf lange Stunden mit Fabian gerade nicht beschäftigt. Doch in hundert spannend komprimierten Minuten im Deutschen Theater Berlin kann man bewundern, wie sich sein Regiekollege Stephan Kimmig gegenüber Hedvig und ihrem Schicksal so vorsichtig wie zupackend, so analytisch kühl wie einfühlsam forschend bewährt.

          Viel Geschrei um nichts bei Castorfs „Fabian“

          Gut, von Frank Castorf war derlei nicht zu erwarten, obwohl er sich manchmal – wie bei „Faust“ 2017 – tatsächlich der Werke annimmt, die er durch seinen Regie-Fleischwolf dreht. Dieser Abend allerdings verläuft gänzlich erwartbar – das heißt zum Beispiel, dass von Anfang bis Ende sinnfrei herumgeschrien wird, selbst bei Kästners eingefügter Erzählung „Inferno im Hotel“ oder bei seinem Vorwort zur Neuauflage des Buches 1950, in dem der berühmte Satz auftaucht: „Der Moralist pflegt seiner Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten.“ Auch Kartoffelsalat wird aufgetischt und gehörig darin herumgehüpft, wie in Castorfs frühen Jahren an der Berliner Volksbühne, deren Intendant er lange war.

          Der Bühnenbildner Aleksandar Denić hat – ebenfalls wenig überraschend – einen seiner drehbaren Multifunktionskomplexe gebaut, hier mit einer lang gestreckten Bar, einem Kino und natürlich nicht einsehbaren Hinterzimmern, aus denen live übertragen wird, was das Ensemble dort zwischen Doppelbett, Küchenzeile und Metzgertisch so treibt. Locker inszeniert sich Frank Castorf an der Handlung entlang, lässt aber vieles weg oder im Geschrei versacken. Außerdem bindet er noch Passagen aus Chamissos Kunstmärchen „Peter Schlemihl“ und Gedichte von Baudelaire ein.

          Überdehnt und inspiriert

          Marc Hosemann gibt den arbeitslosen Germanisten Jakob Fabian, der als melancholischer Beobachter durch das dem Abgrund benebelt-freudig entgegentaumelnde Berlin der späten Zwanzigerjahre trudelt. Andreas Döhler spielt Fabians engsten Freund Labude, der sich umbringt, als seine Habilitation abgelehnt wird und seine Freundin ihn betrügt. Hosemann und Döhler sind ein witziges, lässiges, hochenergetisches Duo, das tanzen, trinken, feiern – und ausgiebig in Sentimentalität baden kann. Die Frauen sind eher dekoratives Beiwerk, ob Margarita Breitkreiz als Fräulein Battenberg, das unbedingt zum Film will und dafür die Besetzungscouch in Kauf nimmt, oder Sina Martens als nymphomane Rechtsanwaltsgattin.

          Bunt gemischte Videosequenzen beschwören auf den Leinwänden mit reichlich Musik den Mythos vom Moloch Großstadt. Trotzdem wirkt die Aufführung mit dem leidenschaftlichen Ensemble überdehnt und nicht sonderlich inspiriert. Sie hätte bereits vor eineinhalb Jahren Premiere haben sollen. Kann es sein, dass sie zu lange auf Eis gelegen hat? Oder schauen wir nach Corona doch anders hin und wollen mehr als die alten Erwartungen erfüllt bekommen, weil wir neue haben?

          Kimmigs „Hedvig“: Inszenierung aus Neon und Weiß

          Vielleicht in diesem Sinne macht die Bühnenbildnerin Katja Haß in Stephan Kimmigs Interpretation von „Die Wildente“ Tabula rasa. Die ganze Bühne samt Portal ist als weißer Kubus mit Neonröhren ausgekleidet. An den Seiten gibt es je ein Bullauge, hinten eine Schiebetür hinaus in gähnende Schwärze. Keine norwegische Folklore, keine Gemütlichkeit, keine stillen Winkel: Alle erscheinen in ihrer hellen Kleidung wie Versuchspersonen in einem Laborexperiment, von dem sie nichts wissen, ob Peter René Lüdicke, der schräge Vogel von einem Arzt, der oft zur Pflege von Lebenslügen als bester Medizin rät, ob Paul Grill als Hjalmar, Inkarnation eines existenziellen Haltungsschadens, der bloß redet und nichts tut, oder ob Judith Hofmann als Gina, seine Frau, tatkräftig und dabei subkutan verbittert.

          Ist Hedvig das Kind von ihr und Hjalmar oder von ihr und dem reichen Konsul Werle, bei dem sie einst arbeitete? Werles Sohn vermutet Letzteres, hat sich mit dem Vater überworfen und ist fortgezogen. Jetzt ist er zurück und will die Wahrheit ans Licht holen. Bei Kimmig ist der Vater gestrichen und aus dem Sohn eine Tochter namens Gerdis geworden, die von der ansonsten zwingenden Anja Schneider anfangs etwas zu rotzig-burschikos gespielt wird.

          Patientin tot, Theater lebt

          Das Ziel von Gerdis’ gnadenlosem „Rechtschaffenheitsfieber“ ist nicht nur die Ehe zwischen Gina und Hjalmar, sondern vor allem Hedvig, die unbedingt ihren geliebten Vater und dessen Ehre retten will. Bei Linn Reusse ist sie ein schönes, trauriges Geschöpf, das seine Tragik so stoisch erträgt, als ahne es, dass damit bald ein Ende sein würde. Wegen einer fortschreitenden Sehschwäche tastet sich das Mädchen vorsichtig durch sein Umfeld, hört indes genau die bösen Untertöne in den Gesprächen der Eltern.

          Stephan Kimmig ist mit dem ausgezeichneten Ensemble eine packende, wirkungsvoll konzentrierte Inszenierung gelungen. Und als sich Hedvig hinter der Bühne erschießt, überströmt blendendes Licht den klinisch weißen Schaukasten: Operation gelungen, Patientin tot. Aber das Theater lebt.

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