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Yvonne Rainers Tanzkunst : Vermächtnis der Postmodernistin zu Lebzeiten

  • -Aktualisiert am

Szene aus Yvonne Rainers Choreographie „Hellzapoppin’: What about the Bees?“ Bild: Nick Ash

Davon hätte die deutsche Tanzszene schon vorher viel lernen können: Die europäische Erstaufführung von Yvonne Rainers „Hellzapoppin’: What about the Bees?“ in der Kunsthalle Baden-Baden.

          3 Min.

          Mit Ausnahme Frankreichs ist in Europa die amerikanische Postmoderne des Tanzes nicht gründlich rezipiert worden. Be­sonders in Deutschland stellt sich die Frage, wie die Tanzgeschichte der letzten dreißig Jahre wohl verlaufen wäre, wenn die von Yvonne Rainer mitgegründete Judson Church stärker ästhetisches Vorbild gewesen wäre als die Tanzvariante des deutschen Regietheaters, das Tanztheater. Doch in dem Land, das bis 1939 den berühmten „German Ausdruckstanz“ produzierte, setzte sich selbst im sogenannten klassischen Tanz an den Theatern eine Art Autorenzugriff durch. Youri Vámos, John Neumeier, letztlich sogar William Forsythe machten sehr verschiedenes, aber doch Tanztheater, nur lehnten sie anders als Pina Bausch Ballett als Sprache nicht ab. Hamburg setzte die Nachkriegszusammenarbeit mit George Balanchine nicht fort, und Merce Cunninghams überragende Werke wurden offen oder hinter vorgehaltener Hand als kalt bezeichnet.

          Cunningham und Bausch starben im selben Sommer, 2009. Seither herrscht in Wuppertal Konfusion darüber, wie Bauschs Erbe zu bewahren sei. Aber über Cunninghams Vermächtnis, seine lebenslange Zusammenarbeit mit John Cage, mit Robert Rauschenberg, Jasper Johns und Roy Lichtenstein ist hierzulande der Vorhang gefallen. Und je weniger Vergleiche mit Werken der Vergangenheit möglich sind, desto weniger fällt auf, wie unterkomplex die Arbeiten von Demis Volpi, David Dawson oder Goyo Montero dagegen sind. Es bekommt denn auch nicht der hochbegabte Adam Linder die Leitung der Frankfurt Dresden Dance Company, sondern der ehemalige Forsythe-Tänzer Ioannis Mandafounis. Das ist nicht gegen Letzteren gerichtet, aber ein ästhetischer Richtungswechsel wäre wünschenswert.

          Baryshnikov sei Dank

          Bevor jetzt die Kunsthalle Baden-Baden einen ihrer weißen Prunksäle für Yvonne Rainers neue Choreographie „Hellzapoppin’: What about the Bees?“ geöffnet hat, hatten bereits 2012 das Kunsthaus Bregenz und das Museum Ludwig in Köln mit der Ausstellung „Raum. Körper. Sprache“ gezeigt, wie die Mitbegründerin der New Yorker Performance-Gruppe Judson Church in ihren Liveauftritten, Filmen, Tänzen und Texten versucht hatte, als politische Aktivistin interessante Kunst zu machen. Museen also, nicht Theater, holten die 1934 geborene Yvonne Rainer aus der hiesigen Versenkung. Interessant war sie nicht zuletzt dank ihrer Mitstreiter: 1963 tanzte der charismatische Steve Paxton für sie, und der Lichtdesigner hieß Robert Rauschenberg.

          Ihr Comeback als Choreographin hatte Rainer, die sich seit den Siebzigerjahren mehr und mehr aufs Filmemachen verlegt hatte, im Jahr 2000 Mikhail Baryshnikov zu verdanken. Dessen lebhaftes Interesse am postmodernen Tanz hatte sich in den Programmen seines „White Oak Dance Project“ immer wieder ausgedrückt. „After Many a Summer Dies the Swan“ hieß Rainers Stück für Baryshnikov und seine Tänzer. 2002 überführte sie Teile dieses Werks in einen Film und ergänzte den Titel dafür um das Wort „Hybrid“. Diesen Film, der der frühen Wiener Moderne nachspürt und dies mit der Gegenwart und heutigen problematischen politischen Entwicklungen verbindet, zeigte man in Baden-Baden vor dem neuen Stück.

          Schönheit in Zeitlupe

          Auf der Leinwand hinter den acht Tänzern sind Ausschnitte aus zwei verschiedenen Filmen zu sehen: links „Hell­­­z­apoppin’“, rechts „Zero for Conduct“. 1941 gedreht, zeigt „Hellzapoppin’“ ein überwiegend schwarzes Tanzensemble, das in unglaublichem Tempo die athletischsten Figuren des Jitterbugs vorführt – mit einer Menge Hebungen, Schlittern, Springen, Schleudern und Wirbeln. Die schwindelerregende und unfassbar virtuose Demonstration bildet die Grundlage von Rainers Bühnenchoreographie. In Turnschuhen und bequemer Kleidung zeigt ihr Ensemble, wie eine postmodern heruntergefahrene, neu phrasierte, sozusagen auf normalmenschliches Format gestutzte Fassung davon aussehen kann. Das Interessante dabei ist, wie viel von der Schönheit des Jitterbugs sich erst in dieser spielerischen Zeitlupe entfaltet.

          Rainers Denken ist ebenso ambivalent wie kompliziert. Natürlich zeigt sie unwahrscheinlich schönen Tanz in Turnschuhen, aber der ist geklaut, wie sie demonstriert. Ist also die weiße Kunst­elite der Vereinigten Staaten auf dem Rücken schwarzer Tänzer berühmt geworden? In New York, wo der ganze Bühnenraum schwarz ausgeschlagen war statt weiß wie in Baden-Baden, wurde weniger Rainers radikaler Antirassismus bewundert. Vielmehr scheinst dort ihr Ausholen in die Vergangenheit als kulturelle Aneignung missverstanden worden zu sein.

          Die Konfrontation mit dem Filmausschnitt aus „Zero Conduct“ ist nicht so einleuchtend. Die Kissenschlacht rebellischer Internatszöglinge ist zwar hübsch, aber zusammen mit dem vom Band kommenden verwirrenden Text Rainers ist das zu viel der Gleichzeitigkeit. In Rainers Text spricht der antike Gott, dem Balanchine sein „Apollon musa­gète“ widmete, und beklagt den amerikanischen Rassismus und die tiefe ökonomische sowie soziale Ungleichheit zwischen Schwarz und Weiß. Der Text ist ein interessantes Schlingern zwischen An­ekdoten und Beobachtungen, Zitaten aus Zeitungsartikeln und Filmen.

          Doch das verständlicherweise tiefe Bedürfnis, in einem Werk, das die Achtundachtzig­jährige als ihr letztes angekündigt hat, alle Sorgen und Reflexionen zu bündeln, hätte sie selbst stärker unterdrücken ­müssen. Wie knapp war dagegen ihr berühmtes No-Manifesto von 1965: „Nein zu stil nein zu camp nein zur verführung des zuschauers durch die tricks des per­formers nein zum exzentrikertum nein zur bewegung oder zum bewegt werden“, hieß es darin ebenso witzig wie radikal. Andererseits: Wie könnte sich einem ­derart substanziellen Alterswerk der flüchtigsten aller Künste die Angst vor dem Vergessenwerden nicht ein­tragen?

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